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Kultur

Leben ist wie Zeichnen, nur ohne Radiergummi

Franziska Junges gezeichnetes Tagebuch der Jahre 2003–2012 ist in einer bibliophilen Ausgabe erschienen

  Leben ist wie Zeichnen, nur ohne Radiergummi | Franziska Junges gezeichnetes Tagebuch der Jahre 2003–2012 ist in einer bibliophilen Ausgabe erschienen

Wie weit kann ich meiner Erinnerung trauen und was kann ich daraus zeichnen? – Das waren die Fragen, die sich Franziska Junge am Anfang ihres Kunststudiums stellte, bevor sie angefangen hat zu zeichnen. Jeden Tag ein Bild, immer aus der Erinnerung, aber noch frisch, immer gleich mit dem schwarzen Filzstift. Und auf jedem Bild muss sie präsent sein. Das waren die Regeln, das von ihr gesetzte Spielfeld, als noch nicht klar war, dass sich das tägliche Zeichnen zu einem festen Arbeits- und Lebensritual – die Grenzen sind ja bekanntlich fließend – entwickeln würde. Irgendwann war klar, es wird nicht mehr ohne gehen. Die Regel schafft Regelmäßigkeit, schafft ein Ritual.

Franziska Junge
Foto von Martin Hoffmann

Anfangs habe sie noch auf Papierrollen, auf große weiße Bahnen gezeichnet – die waren ihr aus der benachbarten Druckerei zufällig zugeflogen, entsorgte Reste. Da sie nicht direkt auf diese riesige weiße Fläche zeichnen wollte, habe sie sich für Panels entschieden, die fortan die Struktur vorgaben: ein schwarzer Rahmen mit Datum. Und immer direkt mit dem schwarzen Stift, keine Vorzeichnung, keine späteren Korrekturen. »Ich konzentriere mich auch ganz anders, wenn ich weiß, es bleibt jetzt stehen.« Es halte unmittelbar den Moment fest, wie er eben war, ohne etwas zu beschönigen. Und alle Bilder haben auch Eingang ins Buch gefunden, nichts wurde rausgenommen oder später ergänzt. »Es gibt Bilder, die mag ich sehr, und welche, die würde ich vielleicht jetzt weglassen. Aber die gehören auch dazu, sind Teil des Prozesses. Das wäre, wie fünf Tage aus dem Kalender zu streichen«, sagt Junge. So kann man nicht nur das Leben (aus Sicht) der Hauptprotagonistin – im Bild die mit Brille – im Laufe der Zeit nachverfolgen, sondern auch die zeichnerische Entwicklung der Künstlerin. Man sieht regelrecht dem schwarzen Strich beim Gedeihen zu: von einem suchenden zu einem festen, entschlossenen, der irgendwann keinen Rahmen mehr braucht, großflächiger, selbstbewusster wird. Auch in der wechselnden Perspektive spiegelt sich der Prozess des Ausprobierens, verschiedene Wege werden eingeschlagen, mal blickt man von oben auf das Geschehen, mal ist man mittendrin und sehr dicht dran, mal wird von weiter weg beobachtet. Auch die verschiedenen Orte, an denen sich Junge länger aufgehalten hat, schrieben sich in die Zeichnungen hinein. Der Strich ist in Halle, Leipzig und Deutschland anders als in Kairo, London oder Japan.

Aber wie wurde aus diesem Langzeitprojekt ein Buch? Und für wen eigentlich? Kann sich auch jemand dafür interessieren, der nicht Teil des Mikrokosmos ist? Analytisch betrachtet könnte man sagen, es passt wunderbar in unsere Zeit der autofiktionalen Literatur, in die (post-)postmoderne, atomisierte Welt. Subjektiv gesehen sage ich: Man kann es genauso gut auch als eine Reise durch Zeit und Raum lesen und sich an verschiedenen Details erfreuen, die die eigene Erinnerung und Fantasie auf eine eigene Reise schicken. Es ist ein Zeitzeugnis, aber auch die Geschichte einer Protagonistin, die auf verschiedene Art und Weise zu lesen ist, und als Leserin kann ich entscheiden, ob ich die knappen den jeweiligen Jahren vorangestellten Texte lesen möchte oder nicht. »Die Zeichnung ist immer ein Filter, eine Abstraktion«, sagt Junge. Vielleicht erkennt sich jemand in einer Situation, vielleicht auch nicht, denn »es bleibt mein Blick auf die Welt, meine Wahrnehmung«. Und wir können uns anhand der Bilder auch jede Menge anderer Geschichten erzählen. Dazu passen auch wunderbar die bewusst platzierten Leerstellen, schwarz umrundete weiße Flächen für unsere eigenen Projektionen. Als hätte Junge schon damals gewusst, dass sie später Bühnenbilder fürs Theater machen würde, bietet sie uns als Lesenden auch eine Bühne, stellt Kulissen hin, bestimmt das Licht – aber es ist uns überlassen, was wir beim Lesen daraus machen.

Erschienen ist das großformatige Buch »Any Day Now« im Verlag Trottoir Noir von Marcel Raabe, einem Leipziger Verlag, der sich auf Notizen, Notate, Reportagen und Aufzeichnungen aller Art spezialisiert und auch in Zeiten wie diesen es wagt, solche Liebhaberinnenprojekte zu realisieren. Dass der Verlag nun zu den zwanzig mit dem Sächsischen Verlagspreis 2022 ausgezeichneten gehört, ist mehr als folgerichtig – herzlichen Glückwunsch. Franziska Junge zeichnet derweil ihre Tage weiter.



■ Franziska Junge: Any Day Now. Tagebuchzeichnungen 2003–2012. Leipzig: Trottoir Noir 2022. 592 S., ca. 2.500 Zeichnungen s/w, 50 €


■ Der Sächsische Verlagspreis wurde in diesem Jahr unter dem Motto »So geht sächsisch« (wir freuen uns schon sehr auf die Merchandise-Artikel) an zwanzig sächsische, überwiegend Leipziger Verlage verliehen: www.so-geht-saechsisch.de/saechsischer-verlagspreis


■ Transparenzhinweis: Bei Trottoir Noir erschien unter anderem auch Martina Lisas Tagebuch »Tage zählen« sowie kürzlich »Abraum, schilfern. Literarische Kartografie einer Thüringer Bergbaulandschaft« von Linn Penelope Micklitz, an die Martina Lisa nach dieser Ausgabe das kreuzer-Literatur-Zepter zurückgibt.


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