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Stadtleben

Editorial 02/23

Das neue Heft ist da!

  Editorial 02/23 | Das neue Heft ist da!

»Heit taunz ma mit die greßten Freind

Und schenken eana reinen Wein

Heit gheart uns die gaunze Wöd

Heit geb ma denen Sandlern Göd«

– Voodoo Jürgens, am 10.2. im Conne Island

Wir schaukeln vor der schönsten Bäckerei der Stadt. Es ist früher Freitagabend – oder später Nachmittag, wer weiß das schon zu dieser Jahreszeit, drinnen die Regale sind fast leer, draußen stehen drei Kunden unter der Lichterkette an. Der ganz vorn fragt etwas schüchtern – wir erinnern uns: Freitagnachmittagabend –, ob es noch Brot gebe. Genau eins ist noch da. Der Mann schaut sich um, sagt: »Ich nehm so viel, dass es noch für die anderen reicht.« – und kauft ein halbes halbes Brot. Der Mann hinter ihm: kauft ein halbes halbes Brot, der Mann dahinter: ebenfalls. Und wir schaukeln noch ein bisschen weiter in den Abend hinein, vor der schönsten Bäckerei der Stadt. Oder der Welt?

[Hier einen sehr klugen Absatz über den Biedermeier einfügen; vgl. Rückzug ins Private als Verdrängungsstrategie und/oder Flucht vor der ungemütlichen Realität; dafür unbedingt nochmal Wiener Kongress und Karlsbader Beschlüsse nachschlagen!; Vormärz? (Februar-Ausgabe!) – witzig oder gewollt witzig, also nicht witzig?]

Schaukel, Lichterkette, Brotsolidarität – man könnte denken, die Welt sei in Ordnung. Ist sie mitnichten – was das allerorten kursierende »Alles gut!« nicht einfach nur nervig, sondern unangenehm zynisch erscheinen lässt, in diesen Zeiten. Der Krieg in der Ukraine begann vor nun schon fast neun Jahren auf der Krim, seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, seit dem Millionen Menschen auf der Flucht sind und die Weltordnung taumelt, nennen wir hier diesen Krieg auch Krieg. Ein Jahr lang schon. In unserer Titelgeschichte schauen wir uns in Leipzig um, wo derzeit ungefähr 10.000 Ukrainerinnen und Ukrainer leben, wo die Städtepartnerschaft zu Kyjiw eine besondere Nähe erzeugt und wo viele Menschen sich auf verschiedenste Art und Weise solidarisch zeigen mit der Ukraine und den hierher Geflüchteten (ab S. 22). Auch unser Interview des Monats und Gedicht des Monats haben wir diesmal der Titelgeschichte angegliedert – jeweils mit der ukrainischen Schriftstellerin Khrystyna Kozlovska, die seit März 2022 in Leipzig lebt und arbeitet (S. 28 u. 57).

Es wird Sie genauso wenig überraschen wie mich, dass unsere Redakteurinnen und Redakteure auch abseits dessen sehr interessante Geschichten ausgegraben haben: Handball-Profi Lucas Krzikalla spricht im Interview über seinen Sport und sein Coming-out (S. 64), Franziska Reif hat sich in Leipzigs Bier-Landschaft umgehört (S. 68)und Leon Heyde sich den Betreuungsschlamassel an den Kindertagesstätten der Stadt angesehen (S. 20). Unter anderem. 

Zurück zur Lichterkettenbrotschaukelidylle: Wer weiß, ob einer der drei Männer da drüben am Bäckereifenster nicht im letzten Jahr aus der Ukraine flüchten musste? Oder vor dem Krieg Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen hat. Oder Geld gespendet hat. Oder Sachen. Oder Angst hat, vor dem Krieg, vor der Zukunft, vor der Gegenwart. Oder vor der Vergangenheit, die ja bekanntlich immer in den Startlöchern steht, topmotiviert und austrainiert, ausgebufft und uns einen Schritt voraus. Geschichte wiederholt sich und so.

Wenn wir sie lassen.

Benjamin Heine

chefredaktion@kreuzer-leipzig.de


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