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Stadtleben

Kant’scher Kompromiss

Eine weitere Familie verlässt ihre Wohnung in der Kantstraße – darf nach der Sanierung aber zurückkommen

  Kant’scher Kompromiss | Eine weitere Familie verlässt ihre Wohnung in der Kantstraße – darf nach der Sanierung aber zurückkommen

Karen Wittig schlängelt sich durch Türme aus Umzugskartons in ihr Wohnzimmer im Leipziger Osten: »Das hat sich alles über 20 Jahre angesammelt.« So lange lebte sie mit ihrer Familie in der Kantstraße, wehrte sich gemeinsam mit einer Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern der Hausnummern 55 bis 63 gegen die Praktiken von privaten Immobilienunternehmen, die mit ihrem Wohnraum spekulierten. Anfang des Jahres zog sie nun aus ihrer Wohnung aus. Übergangsweise. Denn die Wittigs sind die bisher einzigen Mieter, die einen Kompromiss mit dem aktuellen Inhaber, der Campus-Group, schließen konnten. Nach der Sanierung darf die Familie zurück in die Kantstraße, sie einigte sich mit Campus-Chef Matthias Klemens auf die bei Modernisierungen gesetzlich festgelegte Mieterhöhung um zwei Euro pro Quadratmeter. Zuvor zahlten sie unter sechs Euro. Möglich war das nur, weil die Familie über Jahre ausharrte, Abfindungszahlungen ablehnte und auch dann noch trotzig blieb, als ihr wortwörtlich der Gashahn abgedreht wurde.

»Die Kantstraße steht exemplarisch dafür, dass der rechtliche Schutz für Mieter in Deutschland nicht ausreicht«, sagt Tobias Bernet, Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Solidarischen Wohnungsgenossenschaft Leipzig (SoWo). In Deutschland herrsche eine schizophrene Situation: »Unter normalen Umständen funktioniert das Mietrecht eigentlich gut. Da verlassen sich viele Juristen und Mieter dann aber drauf. In dem Moment unterschätzen sie aber, was möglich ist, wenn es jemand tatsächlich drauf anlegt.« In der Kantstraße ist genau das passiert: 2006 kaufte die GRK-Holding zwei unsanierte Wohnblöcke von einer Erbengemeinschaft, 2011 zwei weitere von der LWB. Unbefristete Mietverträge wurden in befristete umgewandelt, die Blöcke leerten sich. Saniert wurde nicht. Dafür teuer weiterverkauft: Zuerst an Instone-Real-Estate, dann an die Campus-Group, die 2021 mit den Sanierungen begann.

Als Kant’sche Höfe bewirbt Campus die entstehenden Eigentumswohnungen, Geschäftsführer Matthias Klemens kokettiert im Exposé: »Wer sein Vermögen einem anderen anvertraut, braucht Vertrauen und einen verlässlichen Partner, der Werte zu schätzen weiß.« Werte, die auf dem Weg zur Luxussanierung abgerissen wurden. Jahrelang berichteten Mieterinnen und Mieter über Belästigungen seitens des Bauherren: übermäßigen Baulärm, eingetretene Haustüren, abgesägte Gartenzäune. Zuletzt eskalierte die Situation im Herbst.

Am 10. Oktober wurde bei Arbeiten im Haus der Wittigs eine Leitung beschädigt, die Stadtwerke drehten die Gaszufuhr ab. Die Familie lebte wochenlang nur mit Elektroheizstrahlern und ohne Warmwasser, auch als die Temperaturen im Dezember unter null Grad fielen. »Mein Mann hat mit Mütze und Schal gekocht. Wir sind bei Freunden, Verwandten, beim Sport duschen gegangen«, erzählt Karen Wittig. Die Baubehörde der Stadt Leipzig schreibt auf kreuzer-Anfrage, dass Campus für die Versorgungsleitungen zuständig ist – dadurch seien sie kein Bestandteil der Sächsischen Bauordnung, entzögen sich also der Zuständigkeit der Bauaufsichtsbehörde. Eine Anfrage des kreuzer, wie die Leitung beschädigt und warum sie im Anschluss nicht repariert wurde, lässt Campus-Geschäftsführer Matthias Klemens unbeantwortet.

Die Sanierung von Wittigs Wohnung kündigt Campus kurzfristig an; als die Bauarbeiter an einem Novembermorgen vor der Tür stehen, verweigert ihnen Karen Wittig den Zutritt zu ihrer Wohnung. »Das dauerte keine zwei Stunden, da hatten wir eine Abmahnung«, erzählt sie. Wenige Tage später hätten Arbeiter in der Wohnung oben drüber eine weitere Leitung beschädigt, berichtet Wittig. Zur Kälte sei ein Wasserschaden hinzugekommen. Anfang Dezember bittet Wittig Campus-Chef Klemens um ein Treffen. Beide Seiten einigen sich auf einen Kompromiss.

Aktuell leben noch zwei Mietparteien in der Kantstraße. Eine davon ist die Familie von Nadine. Sie sitzt vor dem senfgelben Kachelofen in ihrer Küche. Für sie kommt ein Kompromiss mit Campus nicht in Frage: »Das Vertrauensverhältnis ist gestört, wer will schon bei einem Eigentümer mieten, der keine Skrupel kennt, Mieter*innen um jeden Preis loszuwerden?« Profitinteressen stünden klar über dem Wohlbefinden von Familien. »Es ist ein ganz klares Ziel, das hier seit Jahren verfolgt wird: Es heißt Entmietung«, sagt Nadine. »Wir sind damit alleingelassen worden. Diejenigen, die lange hier blieben, sind Menschen, die sich wehren können. Weil wir einfach in diesem gesellschaftlichen Spiel mitspielen können. Andere können das nicht.« In ihrer Freizeit kämpfte die Familie um ihre Wohnung, wehrte sich in einem aufwendigen Gerichtsprozess gegen eine Mieterhöhung.

Nadine hat die Vorkommnisse bei der Sanierung umfangreich dokumentiert. Baumaterialien seien unsachgemäß in ihrem Haus deponiert worden, Baustellen unzureichend abgesichert, und Bäume trotz eines bestehenden Flächendenkmals gefällt worden. In Dutzenden Mails, die dem kreuzer vorliegen, informiert sie die Stadt über die Vorgänge in ihrem Haus, zeigt unter anderem die Zweckentfremdung von Wohnraum an. Antworten bekommt sie nur selten, die Baubehörde fordert von den Mieterinnen und Mietern der Kantstraße Kompromissbereitschaft.

Auf eine schriftliche Anfrage des kreuzer teilt die Stadt mit, dass die Bauaufsichtsbehörde eine Besichtigung der Baustelle durchgeführt hat, dabei allerdings keine Verstöße feststellte. Die Behörde räumt auch ein: »Zweckentfremdung von Wohnraum kann aufgrund der fehlenden Rechtsgrundlage in Sachsen nicht geahndet werden.« Dass die Stadt nicht plant, in den Konflikt einzugreifen, wird deutlich: »Etwaige Belästigungen sind zwischen Eigentümer und Vermietern zu klären.« Schon 2021 erklärte Baubürgermeister Thomas Dienberg (Grüne) im Stadtrat, dass die Stadtverwaltung für die Kantstraße keine Möglichkeit der Unterstützung mehr sieht.

Für Tobias Peter, wohnungspolitischer Sprecher der Grünen im Stadtrat, stellt sich die Situation schwierig dar: »Grundsätzlich sind Sanierungen in bewohntem Zustand zulässig. Sofern Zeiten eingehalten werden, Sicherheit gewährleistet wird.« Was in der Kantstraße passiere, sei sicherlich lästig und ärgerlich, aber grundsätzlich zulässig: »Auch wenn man den Investoren durchaus Intentionen unterstellen kann, bisher ist uns nichts bekannt, was tatsächlich rechtlich zu ahnden ist.«

SoWo-Vorstand Tobias Bernet fehlt die Konsequenz der Stadtverwaltung: »Wenn Mieter jahrelang über derartige Belästigungen berichten, muss die Stadt dort täglich Mitarbeiter des Ordnungsamtes vorbeischicken und signalisieren: Wir schauen euch auf die Finger.« Die grundsätzlichen Fehler der Stadt liegen allerdings schon Jahre zurück, sagt Bernet. Zwischen 2010 und 2015 habe die Verwaltung nicht schnell genug auf den Boom Leipzigs reagiert. Erst später wurde die damalige Wohnpolitik angepasst: Der Stadtrat verabschiedete Leitlinien für soziale Wohnungspolitik und beschloss den Nichtverkauf städtischen Wohneigentums.

»Es bleibt ein Gefühl der Ungerechtigkeit zurück. Man fragt sich, wem gehört die Stadt? Eigentlich den Menschen, die hier wohnen – und nicht irgendwelchen Investoren«, sagt Nadine, für die der Umschwung in der Leipziger Wohnungspolitik zu spät kam. Alternatives Wohnen, von dem sie einst träumte: In der Kantstraße wird es nicht mehr möglich sein.


Foto: Christiane Gundlach


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