Die ältere Dame mit dem adretten Hut greift mit ihrer rechten Hand gen Erdboden, zwischen Campingtisch und Plastepapierkorb steht dort eine schon geöffnete kleine Pils-Flasche aus der Leipziger Stadtbrauerei. Ihre Hand findet sie ganz von allein, dazu bedarf es keiner Kontrolle mit den Augen, vermutlich handelt es sich dabei um eine Alltäglichkeit beim Verkauf von Losen auf der Leipziger Kleinmesse im Jahr 1975. Im Hintergrund stehen Teddys, Konservengläser, Spielzeug-Flugzeuge und -Maschinengewehre als Gewinne bereit. Die Kleinmesse war und ist ein Ort, der sich jenseits der Wirklichkeit befindet. Hier fanden Leipziger Fotografen schon immer Motive, die sich von den Rändern der Gesellschaftsmitte annäherten. So auch Thomas Steinert, der im Alter von 73 Jahren Ende Oktober starb (was aber erst nach Drucklegung des kreuzer 01/23 bekannt wurde). Seine Fotografien fangen die Menschen und die Stadt auf eine ganz ruhige, unaufgeregte Art und Weise ein.
Das Foto von der Kleinmesse ist im mittlerweile nicht mehr erhältlichen Bildband »Thomas Steinert – sehenden Auges – Fotografie aus Leipzig 1969–1996« zu sehen, der 2011 erschien. Darin beschreibt Steinert seinen Weg zur Fotografie generell und zu einigen konkreten Motiven. 1949 in Burgstädt geboren, erlebt Steinert Leipzig bereits zur Klassenfahrt als »Ort der Mysterien«. Nach der Schule geht er drei Jahre auf das Internat in Freiberg zur Ausbildung im Bergbau- und Hüttenkombinat. Dem Alltag entflieht er per Kamera: »Mit der Fotografie fand ich eine Beschäftigung, die mich zumindest für Stunden aufatmen ließ.« Entsprechend nutzt Steinert seine erste Lohnauszahlung zur Aufnahme eines Kredits für den Kauf einer Pentacon Six, die damals 700 DDR-Mark kostet. 1969 kommt er zur dreitägigen Aufnahmeprüfung für das Fotografie-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst nach Leipzig. Er nimmt sich ein Zimmer im Hotel International (Fürstenhof) am Ring und fotografiert die Ereignisse um den 20. Jahrestag der DDR im Herbst 1969. Dazu gehören sowohl die Vorbereitungen auf die Einweihung des Sachsenplatzes (heutiger Standort des Museums der bildenden Künste) als auch der Festumzug, bei dem unter anderem junge Frauen auf dem LKW des VEB Rundfunk- und Fernmelde-Technik Leipzig telefonierend den technischen Fortschritt versinnbildlichen sollen.
Nach der Armeezeit beginnt Steinert 1972 das Studium und lebt in Connewitz. Nach dem Diplom arbeitet er freiberuflich, entwickelt im Labor Farbfotografien für Kolleginnen und Kollegen, produziert Ansichtskarten, wird Mitglied im Verband der bildenden Künstler der DDR. Seine Motive findet er im öffentlichen Stadtleben – zum Beispiel in den öffentlichen Wannenbädern: Er bildet die Reinigungsbrigaden im Grassi-Bad und West-Bad ab, zeigt sowohl die Plattenbauten in Lößnig als auch den Zerfall in Connewitz. Seine Aufnahmen versteht er als Dokumentation einer Situation, »wie immer in der Hoffnung, dass man sich dereinst im fortentwickelten Sozialismus auch gern einmal an seine Krisenzeiten erinnern würde«.
Neben dem Fotografieren auf der Straße sind es die Friedhöfe, die er auf dem Gebiet der DDR besucht und zu denen er ein reichhaltiges Bildarchiv anlegt. Auf den Spuren von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner entstehen zeitlos wirkende Schwarz-Weiß-Motive. In Farbe erscheinen dagegen die Aufnahmen vom Gelände der Sowjetarmee in Eberswalde. Hier schleicht sich Steinert auf Geheimtipp zum Sportplatz. An dessen Rand befinden sich zu der Zeit Arno Brekers überzüchtet wirkende nackte Männerkörper der Skulpturen »Berufung« und »Künder« sowie eine Pferdeskulptur von Josef Thorak, die ursprünglich vor der Reichskanzlei in Berlin-Mitte stand. Im Gegensatz zur Originalerscheinung sind die Skulpturen in der sowjetischen Aufstellsituation zudem mit goldener Farbe versehen.
»Mit der Wiedervereinigung Deutschlands lösten sich die Quellen meines Lebensunterhalts in Nichts auf und all meine mühsam erworbene Fototechnik verwandelte sich über Nacht in Schrott«, fasst Steinert später die Wendezeit zusammen. Er besucht die leeren Betriebe. Mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert beendet Steinert seine fotografische Arbeit. Er bemerkt dazu, dass die Gegenwart mit all ihren globalen Problemen von den jüngeren Menschen abgebildet werden müsse: »Die bringen eine andere Erfahrung und einen anderen Blick mit, die sind näher dran.«
Vor zwei Jahren gelangte der Vorlass des Fotografen an das Museum der bildenden Künste. Neben den bekannten Motiven aus der Leipziger Stadtlandschaft von 1969 bis 1996 sind darunter auch die Aufnahmen seiner Langzeitrecherchen zu Friedrich Nietzsche samt fast fertigem Buchkonzept und den Friedhöfen auf dem Gebiet der DDR. Ebenso gehören dazu seine Collagen aus achtziger Jahren mit Motiven aus DDR-Illustrierten, die bisher noch keine öffentliche Beachtung fanden. Das Museum möchte in der nächsten Zeit mit der Aufarbeitung beginnen. Auf Instagram findet sich ein im Aufbau befindliches Thomas-Steinert-Archiv.
> Instagram: thomassteinert_archiv
Titelfoto: Jörg Gläscher.