Fünfzehn Jahre dürfte es her sein, als ich mir das letzte Mal ein Buch in der Stadtbibliothek Magdeburg ausgeliehen habe. In einer Viertelstunde soll hier nun – im April 2023 – die Lesung mit Dirk Oschmann und seinem Spiegel-Bestseller »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« mit anschließender Diskussion beginnen. Vor dem Eingang drängelt sich eine riesige Gruppe älterer Damen und Herren. Kein Platz mehr, heißt es. »Das kann doch nicht wahr sein!«, raunt ein älterer Herr. Durch die Glastür erspähe ich meinen Bekannten David Begrich. Obwohl die Stadtbibliothek den Abend als Lesung angekündigt hat, soll der Rechtsextremismus-Experte im Anschluss mit Oschmann in die Diskussion kommen.
Schließlich dürfen doch noch sechs Personen in den Saal, darunter ich. Als ich neben den voll belegten Stuhlreihen stehe und einen freien Platz suche, werde ich kritisch beäugt: Scheinbar bin ich die einzige junge Frau im Raum – der Altersdurchschnitt der rund 150 Gäste liegt mindestens über 60 Jahre. Vermutlich sind sie alle in der DDR, vermutlich sogar in Magdeburg aufgewachsen – genau wie ich, meine Eltern und Großeltern. Auch ich habe das Buch des Leipziger Professors für Neuere deutsche Literatur gelesen, will wissen: Wie werden Oschmanns Thesen in Ostdeutschland diskutiert? Und wie reagiert der Autor auf die Kritik eines in Ostdeutschland geborenen und sozialisierten Sozialwissenschaftlers?
Der Herausforderer sitzt bequem
Nachdem der Buchautor ein paar Autogramme verteilt und Fotos mit Gästen gemacht hat, setzt er sich in den schwarzen Ledersessel auf der Bühne. Sein Blick ist herausfordernd, er scheint routiniert. Das Buch habe er für sein Seelenheil geschrieben. Da die Studien der letzten Jahre über die Chancenungleichheit zwischen Ost und West nichts bewirkt hätten, hätte er sich für eine andere Art des Schreibens entschieden. »Anders«, das heißt auch: platter und polemischer. In den nächsten dreißig Minuten wird Oschmann über Einverleibung des Ostens durch den Westen, über Ost-Stereotype und das Sprechen von Ostdeutschen im öffentlichen Raum reden. Immer wieder platzen dem Professor zwischendurch neue Anekdoten heraus: Neulich habe er ja im ZDF-Mittagsmagazin gesessen, während im Hintergrund Bilder vom »vollkommen abgeranzten verödeten Osten« gelaufen seien. Diese Bilder hätten auch aus Gelsenkirchen oder Bottrop stammen können, schimpft Oschmann, der sich damit »in die alte Ecke gedrängt, in die Ostschublade gesteckt« fühlt.
Der Antagonist erscheint
Bald darauf kommt David Begrich auf die Bühne, der an diesem Abend die Rolle des Advocatus Diaboli übernimmt. Der in den Medien viel zitierte Sozialwissenschaftler soll für ein wenig Differenzierung in Oschmanns persönlicher Erzählung sorgen. Obschon er dabei eine westdeutsche Dominanz gegenüber dem Osten einräumt, scheinen seine Differenzierungsversuche überhaupt nicht gut beim Publikum anzukommen. Im Gegensatz zum Ostdeutschland-Verteidiger Oschmann, fragt Begrich nach der Verantwortung der Ostdeutschen für die gesellschaftlich-politische Lage. Er spricht über die Zustimmung zur Währungsunion trotz der geäußerten Einwände von DDR-Finanzminister Romberg und über die Zustimmung der ostdeutschen Landesparlamente zur Übernahme der Gesetze westdeutscher Partnerländer. »Die Mehrheit der Menschen hat sich dafür entschieden, diesen Weg in die deutsche Einheit so zu gehen.«
Dem Publikum platzt der Kragen
Wo bei Professor Oschmann noch andächtig geschwiegen wurde, herrscht bei Begrich jetzt großes Getuschel. Als er auch noch eine Studie der Uni Bonn anführt, nach der Ostdeutsche nicht bereit sind, führende Positionen zu übernehmen, platzt dem Publikum der Kragen: Laute Buh-Rufe. Ich blicke mich um, mir ist unwohl. Es wird immer lauter, Begrich muss förmlich gegen die Menge anreden. Als er schließlich nach dem Resonanzraum für westdeutsche Rechtsextreme in Ostdeutschland fragt, brüllt ein breitbeinig sitzender Mann mit verschränkten Armen hinter mir: »Ich möchte hier nicht bekehrt werden mit Ihrer Meinung.« Meine Sitznachbarin murmelt: »Wir wollen Herrn Oschmann hören und nicht dich!« Keiner scheint der Umgangston zu interessieren, es scheint eher so, als wäre man das gewohnt.
Bestätigung statt anderer Meinung
Und Professor Oschmann? Sitzt derweil ruhig in seinem Sessel und schaut zu, wie die Menge hochkocht, lässt Begrich förmlich auflaufen. Auf dessen Ausführungen geht er gar nicht erst ein, ningelt stattdessen abermals: »Der Osten kommt in der Repräsentation nicht vor, in der Teilhabe nicht vor und schon gar nicht in der Mitgestaltung.« Das gibt spontanen Applaus. Bald wird mir klar: Fakten spielen hier keine Rolle. Oschmann will Gefühle bedienen. Diffuse Gefühligkeit zeigt sich auch in der anschließenden Fragerunde. Die Männer, die hier sprechen, stellen keine Fragen. Stattdessen breiten sie in Seelenruhe ihre eigene Ost-Geschichte aus. Ich bekomme den Eindruck, dass es hier nicht um Lösungen, sondern um Bestätigung geht. Nur: So wird man das Bild des Jammersossis nicht korrigieren können.
Nach dem Schlussapplaus strömen die Menschen auf Oschmann zu, eine alte Dame beschwert sich bei Begrich. Zwanzig Minuten später verlassen der Sozialwissenschaftler und der Professor getrennt den Saal – ohne Nachgespräch und ohne Abschiedsworte. Alles scheint gesagt.
Foto: Jakob Weber.