Am Wochenende herrschte in Leipzig der polizeiliche Ausnahmezustand. Aufgrund einer Gefahrenprognose wurden vorsichtshalber alle Demonstrationen verboten, die einen Bezug zur Verhandlung um die Leipziger Antifaschistin Lina E. hatten. Sie und drei weitere Mittäter waren vergangene Woche für Angriffe auf Neonazis zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. In der Stadt kam es am Wochenende zu teils gewalttätigen Protesten. Kritikerinnen werfen der Polizei unverhältnismäßiges Vorgehen vor.
Beim sogenannten Massencornern in Connewitz war es bereits Freitagnacht zu den erwarteten Auseinandersetzungen zwischen Sympathisanten von Lina E. und der Polizei gekommen. Entsprechend angespannt war die Lage am Samstag vor der von der Stadt verbotenen Großdemonstration, die eigentlich um 17 Uhr hätte beginnen sollen. Etwa 3.000 Polizeibeamte aus mehreren Bundesländern waren im Einsatz, um das gerichtlich bestätigte Verbot durchzusetzen.
Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Innenminister Armin Schuster (CDU) waren nach Leipzig gekommen, um sich bei der Polizei über den Einsatz zu informieren. Nach einem Treffen mit dem Leipziger Polizeipräsidenten René Demmler twitterte Kretschmer: »Polizisten schützen die Leipziger vor Gewalttouristen. Das Ziel ist Menschen und Sachwerte zu beschützen und Gewalttäter festzunehmen.« Auf kreuzer Anfrage betonte die Polizeidirektion Leipzig indes: »Das Wort Gewalttouristen haben wir nicht benutzt.« Auch zu der Frage, wie viele Personen tatsächlich von außerhalb zu den Protesten angereist seien, konnte die Polizei keine Angaben machen.
Kundgebung für Versammlungsfreiheit größer als erwartet
Zu dem Zeitpunkt von Kretschmers Tweet hatte die Polizei bereits ein massives Aufgebot auf der Karl-Liebknecht-Straße zusammengezogen. Denn dort fand eine angemeldete Demonstration für Versammlungsfreiheit statt, die nicht unter das Verbot der Stadt fiel. Einsatzkräfte waren in den Nebenstraßen positioniert und hielten sich zunächst zurück. Anders als die angemeldeten 200, versammelten sich um 16:30 Uhr etwa tausend Demonstrantinnen auf dem Alexis-Schumann-Platz. Später sprach die Polizei von mehreren Tausend Personen.
Nach einigen Redebeiträgen und einer bis dahin eher statischen Kundgebung soll sich laut Polizeisprecherin gegen halb sechs eine Gruppe von etwa 200 Personen vermummt haben. Diese Zahl ließ sich vor Ort jedoch nicht bestätigen, zumal das Tragen von Mund- und Nasenschutzmasken laut Polizei von dem Vermummungsverbot ausgenommen war. Die Polizei forderte die Demonstrierenden per Lautsprecherdurchsage auf, die Vermummung abzulegen. So lange dürfe die Demo nicht loslaufen. Als Reaktion kam Dynamik in die Kundgebung, Sprechchöre ertönten.
Intensive Verhandlungen
Es folgten intensive Verhandlungen zwischen der Versammlungsbehörde der Stadt und Polizei mit dem Anmelder der Kundgebung, dem Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek. Doch noch während die Gespräche liefen, sollen Demonstranten laut bislang unbestätigten Aussagen der Polizei begonnen haben, Steine aufzusammeln. Darum habe Kasek den friedlichen Verlauf der Versammlung nicht mehr garantieren können. Die Demonstration habe darum nicht laufen dürfen und sollte zu einer stationären Kundgebung umgewandelt werden. Um wie viele Personen es sich tatsächlich gehandelt haben soll, konnte die Polizei auf Anfrage nicht sagen. Teilnehmende, mit denen der kreuzer gesprochen hat, haben die Situation anders wahrgenommen.
Das Dreiergespann aus Kasek und den linken Landtagsabgeordneten Jule Nagel und Marco Böhme versuchte, einen Kompromiss zu finden. »Wenn wir laufen, können wir besser deeskalierend auf die Versammlung einwirken«, sagte Kasek dem Leiter der Versammlungsbehörde. Jule Nagel betonte: »Das ist nicht klug. Wenn die Demonstration nicht laufen kann, wird die Stimmung kippen«, prophezeite sie. »Die Polizei hat die Situation unnötig eskaliert«, erklärt Nagel später im Gespräch mit dem kreuzer.
Kurze Eskalation, ein Kessel und viele Folgen
Dann wurde es hektisch. Ein Teil der versammelten Menschen setzte sich trotz Verbot in Richtung Scharnhorststraße in Bewegung. Steine und Flaschen flogen in Richtung Polizei. Vor allem wurden Rauchtöpfe und Feuerwerkskörper gezündet. Der Versuch endete kurz darauf, weil die Polizei die Straße blockierte. Die meisten Teilnehmenden rannten vor den heranstürmenden Polizeibeamten davon. Anschließend wurde die Versammlung durch Kasek aufgelöst.
Die Polizei umstellte in der Folge fast den gesamten Platz. Dennoch schafften es viele Personen, die Demonstration zu verlassen. Nur eine Gruppe von 150 bis 300 Personen wurde auf dem Heinrich-Schütz-Platz vor dem Immanuel-Kant-Gymnasium festgesetzt. »Der Vorwurf lautet schwerer Landfriedensbruch und tätliche Angriffe auf Einsatzkräfte«, teilt die Polizei auf Anfrage mit.
Was folgte, war eine stundenlange Maßnahme, die auf heftige Kritik stieß. Noch nach über zwei Stunden soll die Polizei den festgesetzten Personen Toilettengänge verweigert haben, wie Betroffene der Maßnahme berichteten. »Es gab nur zwei Stellen im Gebüsch, wo man aufs Klo gehen konnte«, erzählt eine der eingekesselten Personen im Gespräch mit dem kreuzer. »Das war für die Menge an Leuten viel zu wenig und insbesondere für Frauen unangenehm, weil man sich kaum vor den Blicken der Polizisten schützen konnte«. Auch Wasser soll zunächst nur sporadisch von freiwilligen Sanitätern gebracht worden sein, nicht aber von der Polizei.
Die Polizei weist die Vorwürfe zurück: »Durch uns wird allen Betroffenen Wasser zur Verfügung gestellt. Sanitäranlagen gibt es auch vor Ort«, teilte sie um Viertel vor zehn mit. Doch noch kurz vor Mitternacht, also knapp sechs Stunden nach Einleitung der Maßnahme sollen die Betroffenen laut Zeugenaussagen gegenüber dem kreuzer immer wieder verhandelt haben müssen, ob sie auf die Toilette dürften. Um Trinkwasser hätte die Polizei sich aber inzwischen gekümmert.
Um den Kessel herum sammelten sich im Laufe des Abends Menschen, die ihre Solidarität mit den Festgesetzten bekundeten. Decken und Verpflegung wurden gesammelt, weil die Polizei sich hierum nicht gekümmert habe, so der Vorwurf. »Es gibt nicht ausreichend Verpflegung für die ganzen Leute«, teilt uns eine betroffene Person aus dem Kessel mit. »Es ist sehr kräftezehrend, kalt. Der Boden ist zu kalt, um drauf zu sitzen und vom vielen Stehen tun die Füße weh. Eine Person in meiner Nähe ist in Tränen ausgebrochen«.
Die Maßnahme sei Teil einer Machtdemonstration der Polizei, kritisiert Jürgen Kasek das Vorgehen am Rande des Kessels gegenüber dem kreuzer. Es werde unnötig in die Länge gezogen. Teils seien Minderjährige im Kessel. Auch brächen immer wieder Leute im Kessel zusammen, die behandelt werden mussten. Von vier medizinischen Notfällen war die Rede, wohl alle aus Erschöpfung.
Dass sich in der Maßnahme auch minderjährige Personen befanden, wusste die Polizei. »Diese werden priorisiert abgearbeitet«, teilte die Polizeidirektion Leipzig schon früh mit. Und tatsächlich soll dies wohl passiert sein. Doch dem kreuzer liegen Berichte vor, wonach auch mehrere Minderjährige bis in die frühen Morgenstunden festgehalten wurden.
Immer wieder seien die Leute im Kessel auch von der Polizei drangsaliert worden. So soll der ohnehin schon kleine Platz, auf dem die Maßnahme stattgefunden hatte, in der Nacht noch einmal verengt worden sein. »Wir konnten uns kaum hinsetzen, so eng wurde es. Im Laufe der Nacht wurden auch immer wieder Leute gewaltsam rausgezogen, obwohl von den Leuten im Kessel keine Gefahr ausging«, erzählt einer der Betroffenen im Gespräch mit dem kreuzer.
Erst um fünf Uhr wurde die letzte Person aus der erkennungsdienstlichen Behandlung entlassen. Einige mussten noch bis Sonntagmittag in Präventivgewahrsam bleiben. Wie viele Leute genau betroffen waren, konnte die Polizei auf kreuzer-Anfrage nicht mitteilen. Vor Ende der Woche sei auch nicht mit genaueren Zahlen zu rechnen. »Es war ein hochkomplexer Einsatz«, erklärt die zuständige Polizeisprecherin im Telefongespräch.
Über das Wochenende hinweg hätte es 50 verletzte Polizeibeamten gegeben. Unter welchen Umständen diese Verletzungen zustande gekommen sind, geht aus der Polizeimitteilung nicht hervor. Zu verletzten Demonstranten lagen bis Montagabend keine verlässlichen Zahlen vor.
Lob und Dank für die Polizei
Bereits am frühen Samstagabend hatte Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) betont, dass die Polizei bei ihrem Großeinsatz in Leipzig zurückhaltend vorgegangen sei und auf Deeskalation gesetzt habe. Zu dem Zeitpunkt hatte sie 10 Wasserwerfer um den Kundgebungsort am Alexis-Schumann-Platz aufgefahren. Als Deeskalation durch Stärke bezeichnete der Leipziger Polizeipräsident René Demmler das Konzept gegenüber der LVZ.
Auch der Sprecher der Stadt Leipzig, Matthias Hasberg, meldete sich bereits am Abend zu Wort. Die Kundgebung von Kasek sei unverantwortlich gewesen. »Der Anmelder muss sich fragen lassen, ob er nur naiv war oder gar eine Strategie verfolgte«, sagte er der LVZ. Im Gespräch mit dem kreuzer wies Kasek die Vorwürfe zurück: »Wenn er über mich sagt, dass es unverantwortlich sei, an so einem Tag eine Demonstration anzumelden, dann sagt er, es sei unverantwortlich, seine Grundrechte wahrzunehmen.«
Der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) rechtfertigte dagegen das Vorgehen von Stadt und Polizei: »Die erlaubte Demonstration am Samstagabend zeigt, dass das Verbot richtig war. Es ist nicht einfach, abzuwägen, ob man eine Demonstration verbietet. Aber wenn wir solche Gewalt befürchten müssen, wie wir sie angekündigt hatten, ist auch die Einschränkung der Meinungsfreiheit gerechtfertigt«, erklärte er am Sonntag vor der Presse.
Kritik an unverhältnismäßigem Einsatz
Doch das sehen nicht alle in der SPD so. Die Co-Vorsitzende des Leipziger Stadtverbandes, Irena Rudolph-Kokot, erklärte per Twitter mit Blick auf das Vorgehen der Polizei: »In was für einem Staat leben wir eigentlich, wo es möglich ist, dass Minderjährige acht Stunden nachts im Polizeikessel gehalten werden. Polizei Sachsen, schämt ihr euch eigentlich nicht?«
Auch aus dem Kreisverband der Grünen kam Kritik: »Die erfolgten Einschränkungen sind aus unserer Sicht unverhältnismäßig«, erklärte Ulrike Böhm für den Verband. »Leider haben wir gestern keine Besonnenheit, sondern ein massives, unverhältnismäßig hartes Agieren der Polizeikräfte erlebt. Es kam zu erheblichen Grundrechtseinschränkungen wie dem Verbot von Demonstrationen, Kontrollbereichen und erheblichen Beschränkungen genehmigter Demonstrationen, die rechtsstaatlich stark zweifelhaft sind.«
Und auch der Grünen-Innenpolitiker Valentin Lippmann kritisierte das Vorgehen der Polizei in einer Mitteilung: »Insbesondere die fast zwölfstündige Dauer der Identitätsfeststellung von einer hohen dreistelligen Zahl an Menschen, darunter Minderjährige, ist hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit deutlich zu hinterfragen.« Die Geschehnisse müssten auch im Landtag aufgearbeitet werden, forderte er. Dies soll nach aktuellen Informationen am 12. Juni in einer Sondersitzung des Innenausschusses passieren.
Sachsens Innenminister Schuster verteidigte dagegen das Vorgehen der Polizei und bedankte sich am Abend bei den Beamten. »Was die Polizei feststellte, war äußerst bedrohlich. Vermummung, schwarze Blocks, Bewaffnung, Steine, Pyros, es flog ja sogar ein Molotow-Cocktail.« Es sei laut Schuster nicht möglich gewesen, eine Demonstration von 1.500 Menschen laufen zu lassen, die sich so gewaltsam vorbereitet hätten, erklärte er gegenüber dem MDR.
Doch nicht einmal die Polizei sprach von 1.500 gewaltbereiten Demonstrierenden. Olaf Hoppe, Pressesprecher der Polizei Leipzig, erklärte gegenüber dem kreuzer, dass nur eine Minderheit der Teilnehmenden gewaltbereit gewesen sein soll. Zunächst war die Rede von 200, später soll es rund ein Drittel gewesen sein. Abschließende Angaben und genaue Zahlen konnte die Polizei auf Anfrage bis Montagabend jedoch nicht machen.
Foto: Tim Wagner.