Es ist Samstagnacht, kurz vor 1 Uhr am 4. Juni 2023. An der Kochstraße wird ein Mädchen in kurzen Hosen und T-Shirt, augenscheinlich minderjährig, vielleicht gerade volljährig, von der Polizei aus dem Kessel am Heinrich-Schütz-Platz entlassen. Sie wirkt verstört und verängstigt, weint. Ihr wurde das Handy abgenommen, erzählt sie, und ein Platzverweis für Connewitz erteilt. Es ist der Stadtteil, in dem sie wohnt, und der Polizist habe ihr gesagt, sie dürfe bis 8 Uhr früh nicht nach Hause. Ohne Handy kann sie niemanden anrufen und nach Hause traut sie sich nicht, aus Angst, doch noch in Gewahrsam genommen zu werden. Noch Stunden später sitzt sie ein paar Straßen weiter in einem dunklen Hauseingang. Je mehr Erfahrungsberichte aus dem Leipziger Kessel bekannt werden, desto mehr offenbart sich ein System der Willkür, der Schikane und auch der Entmenschlichung. Diese polizeiliche Maßnahme gegen mehrere hundert (mittlerweile spricht die Polizei von 1000) Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer angemeldeten Demonstration war der Tiefpunkt des Ausnahmezustandes, den die Stadt zusammen mit der Polizeiführung ein ganzes Wochenende über Leipzig verhängt hatte.
Der Ausnahmezustand galt keineswegs allen, sondern explizit nur der linken Szene und allen, die nach Augenmaß der Polizei ihr zugeordnet wurden. Die restliche Stadtbevölkerung sollte in Ruhe und Ordnung ihrem Alltag nachgehen können. Ganz wie es sich Oberbürgermeister Burkhard Jung in einer Videobotschaft vorab gewünscht hatte, lauschten Zehntausende auf dem Stadtfest in der Innenstadt alten DDR-Schlagerlegenden, feierten beim Public-Viewing den Sieg im DFB-Pokalfinale oder tanzten ausgelassen zu Herbert Grönemeyer im Stadion. Bestimmt sang er dort auch einen seiner größten Hits: »Was soll das?« – Das fragten sich wenige Kilometer entfernt auch die über tausend Demonstrantinnen und Demonstranten, denen das Recht zu demonstrieren genommen worden war.
Verantwortung des Rechtsstaates
Es ist mal wieder notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Rechtsstaat ein Instrument demokratischer Ordnungen ist, das dem Schutze der Bürgerinnen und Bürger vor dem Staate dient – und nicht umgekehrt. Der Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen Grundrechte haben, die der Staat zu schützen hat. Was im Übrigen – dies hier nur als Fußnote zur Gewaltdiskussion – auf den Barrikaden der bürgerlichen Revolutionen erkämpft wurde. Statt aber alles dafür zu tun, die Grundrechte zu schützen, und zwar nicht nur die der Stadtfestbesucher und -besucherinnen, sondern auch derjenigen, die dem Staat kritisch gegenüberstehen (ein weiteres Merkmal demokratischer Ordnungen), wurde eine Allgemeinverfügung erlassen, die ein Verbot sämtlicher kollektiver Meinungsäußerungen zum Antifa-Ost-Verfahren und dem Urteil gegen die Gruppe um Lina E. beinhaltete. Das kennt man so eigentlich nur aus autoritären Regimen. Dementsprechend demonstrierte am Sonntagabend eine kleine Gruppe mit einem weißen, unbeschrifteten Transparent stumm die Karli Richtung Süden entlang. Ein absurdes Bild, das wohl mit Absicht an die verbotenen Antikriegsproteste in Russland erinnerte. Nun wurde diese Gruppe – anders als in Russland – dafür nicht festgenommen oder verprügelt. Im Gegensatz zu den Menschen, die Samstagnacht am Rande des Kessels aus Solidarität ausharrten und dort über den Polizeilautsprecher die Ansage bekamen, »politische Äußerungen zu unterlassen«, sonst würde man unmittelbaren Zwang gegen sie anwenden. Kurz darauf wurden sie mit Gewalt von der Straße geräumt. Manches, was an diesem Wochenende geschah, klingt so, als ob Kafka zusammen mit Loriot das Drehbuch geschrieben hätte. So zum Beispiel am Sonntag, als eine kleine Gruppe am Polizeirevier an der Dimitroffstraße auf Menschen wartete, die vom Kessel in Gewahrsam gekommen waren, weil sie auf einer Demonstration gegen ein Demonstrationsverbot waren, die dann faktisch selbst verboten wurde. Bald wurde auch die Gruppe der Angehörigen und Unterstützerinnen eingekesselt, mit der Begründung, dass auch dies eine unzulässige Versammlung sei. Leider war all dies aber keine kafkaeske Unterhaltungsshow im Abendprogramm, sondern ein ganzes Wochenende die Realität in einer Stadt mit einer linken Mehrheit im Stadtrat, einem Oberbürgermeister der SPD und einer Versammlungsbehörde, die einem Linkspartei-Politiker unterstellt ist.
Großes Polizeiaufgebot
Die Begründung für die Aussetzung der Grundrechte und die polizeiliche Gewalt war das Schreckensszenario einer brennenden Stadt und die anonyme Drohung auf einem Internetportal, eine Million Euro Sachschaden für jedes Jahr Haftstrafe zu verursachen. Nun ist der »Grundsatz der Verhältnismäßigkeit« aber ein weiteres Merkmal eines Rechtsstaates. Für ein ganzes Wochenende sämtliche kollektiven Meinungsäußerungen zu einem politischen Thema zu verbieten, weil einzelne Gruppen angekündigt hatten, ihrem Protest mit Gewalt Ausdruck zu verleihen, ist sicher nicht verhältnismäßig. Ebenso wenig, dass wegen 200 Vermummten, vielleicht sogar Gewaltbereiten, auf einer Kundgebung von 1.500 Menschen (so die offiziellen Angaben der Polizei vor Ort), bei über 3.000 Polizistinnen und Polizisten in der Stadt, mindestens zehn Wasserwerfern, Räumpanzern und zwei Hubschraubern, die gesamte Demonstration nicht laufen darf. Und erst recht nicht die elfstündige Freiheitsberaubung von hunderten, willkürlich eingekesselten Menschen ohne Grundversorgung und Zugang zu Toiletten, weil ein paar Dutzend im Schutze der Masse für ein paar Minuten die Polizei angegriffen haben. Die vom Leipziger Polizeipräsidenten René Demmler herausgegebene Taktik »Deeskalation durch Stärke« wurde nicht nur auf dem Rücken der Grundrechte durchgezogen, offenbar hatte sie auch nur mäßigen Erfolg. Die ritualisierten Krawalle in Connewitz gab es trotzdem, die wie immer weitaus schlimmer aus der Ferne erscheinen, als sie tatsächlich waren. Ob diese trotz der Demonstrationsverbote stattgefunden haben, oder vielleicht auch gerade deswegen, weil es nämlich keine Möglichkeit des legalen Protestes mehr gab, wissen nur die daran Beteiligten.
Für viele bleibt von diesem Wochenende das Gefühl, dass es in Sachsen selbst in einer linksliberal regierten Stadt keine höhere Instanz und keine ausreichend große demokratische Zivilgesellschaft gibt, die einen vor willkürlicher Gewalt und dem Aussetzen der Grundrechte schützen kann. Für abgebrühte Linksradikale mag dies keine neue Erkenntnis sein. Für viele junge Menschen indes schon. Sie werden sich nun entweder radikalisieren, oder sich nie wieder trauen, auf eine Demonstration zu gehen. Der Eindruck bleibt, dass letzteres durchaus das Ziel der Polizeitaktik war, was eine weitaus größere Gefahr für eine offene, demokratische Gesellschaft darstellt als ein paar brennende Mülltonnen. Ob diese Taktik Erfolg hat, hängt auch von der Aufarbeitung der Geschehnisse in der Stadt ab.
Foto: Tim Wagner.