Der Westflügel feiert Geburtstag: Seit 2003 finden in dem Jugendstilhaus im Leipziger Westen Aufführungen statt. Am Donnerstag beginnt das Festival »Twist it! Figur und Tanz«. Der 20. Geburtstag gibt Anlass für kleine Rückblicke auf die Anfangszeit.
Verloren ziehen die Figuren ihre Kreise, manche ausgelassen tanzend, anderen ist die Not in Bewegungen eingeschrieben: zerrüttete Existenzen allesamt. Da erscheint ein steif gewordener Gaukler, hier wiegt eine Frau, deren Berufsbezeichnung nicht »Tänzerin« ist, frivol ihre Hüften, dort raufen anonyme Alkoholiker um den letzten Tropfen. In morbiden Szenarien bewegt sich die Uraufführung vom Figurentheater Wilde & Vogel, die auch die erste eigene Inszenierung des Westflügels ist: »Spleen« nach Charles Baudelaire. Geschehen anno 2006. Schon 2003 fanden erste Bespielungen des Jugendstilhauses statt, das lange als Ofenfabrik und Lager diente. Der 20. Geburtstag gibt Anlass für kleine Rückblicke auf die Anfangszeit. Wer weiß noch, dass der berühmte Peter Brook hier inszenierte, als draußen Leipzigs schlimmster Hagelsturm tobte, oder sich japanisches Theater zum Festival gruppierte?
»Sugar«, R: Franziska Merkel, 2007
Alter schützt vor Torheit nicht
Das Shakespeare-Original wird auf ein Zweipersonenstück zusammengekürzt. Die handelnden Personen sind der eindrucksvoll degenerierte Lear und ein beißend-lästerlicher Narr – die Töchter erscheinen nur als Figuren –, in deren Zwiegespräch Bilder und Spuren der Vergangenheit auftauchen. Reizvoll ist ein Dopplereffekt: Narr und König treten zuweilen in Puppengestalt auf. Gerade die kleinen Szenen und Details gewinnen in dieser Minimalaufführung an Gewicht. Etwa wenn ein einsamer Figuren-Lear verzagt an der übergroßen Krone rüttelt.
»King Lear«, R: Hendrik Mannes, 2007

Butt bei die Fische
Bei der Deutschlandpremiere des Nørregaards Teater Ebeltoft (Dänemark) wird ein Badezuber zu Meer und Heimstatt des Butts, aus zwei Hockern entsteht ein Pisspott, der sich kurz darauf zum Palast verwandelt. Einfallsreich gestaltet sich auch der anschwellende Buttgesang: Zunächst aus einer Mülltüte geformt, steigt seine Präsenz stetig an, bis er die ganze Bühne einnimmt und in apokalyptischem Zorn die Wellen über den materiellen Errungenschaften des Fischerpaares zusammenschlagen lässt.
»Konen i Muddergrøften«, R: Michael Vogel, 2006
Sandkasten-Gaia
Magische Momente bedürfen eines besonderen Ortes. So nimmt man durchs Kellerlabyrinth geleitet in einer räucherstäbchengeschwängerten Jurte Platz. In ausladenden Gesten beschwört ein Schamane den Eisprung der Erde. Eine auf die Seite gekippte Kabeltrommel wird zum Tableau für einen Salto mortale durch die Erdgeschichte, Geburt und Tod der Menschheit. Fast ausschließlich Kinderspielzeug findet Einsatz und eine Batterie von Lämpchen, die vielerlei Schattenschabernack ermöglicht. Eine in der Mitte des Tisches befindliche Jurtennachbildung erzeugt im Spiel ums Innen und Außen eine spannende Doppelperspektive. Das Publikum befindet sich in der Position eines ausgeschlossenen Dritten, der doch mittendrin ist.
»Die Caverne ist ein Cosmos«, R: Christian Carrignon, 2006
Schaufenster
Eine Weltkugel promotet »Der Hobbit«, ein gestrandeter Ozeanriese empfiehlt »Die Bessenen«. Robert Voss hat zahlreiche Werbeträger für die darstellende Kunst entworfen und dabei immer eine höchst eigene Handschrift hinterlassen. Seine Theaterplakate sind scheinbar wahllos nebeneinander an eine Wand tapeziert. Steht man vor dieser aufgeschnittenen und geplätteten Litfaßsäule, zeigen sich die Plakate als Schaufenster in fantastische theatrale Welten. Man wird sich beim Gedanken ertappen: »Das Stück muss ich sehen.«
»Robert Voss: Theaterplakate«, 2009
Auf zur Feier
Das Festival »Twist it! Figur und Tanz« ist Auftakt für die Geburtstagssause. Die Produktionen dokumentieren das Profil des Hauses als Produktionsstätte mit interdisziplinärem Ansatz. Der schaurig-schräge Totentanz »Der Reigen« (Christoph Bochdansky) befindet sich darunter und das ritualartige Licht-Schatten-Spiel »Untiefe« (Jan Jedenak). Workshoppräsentationen und Nachgespräche geben experimentelle Einblicke und schaffen Vertiefungen. Gemeinsam gefeiert wird selbstverständlich auch.
> 15.–19.6., Westflügel, www.westfluegel.de


Titelbild: Urgesteine der Westflügel-Belebung: Michael Vogel und Christoph Bochdansky in einem Reigen. Foto von Jana Gross.
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