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Kultur

Flügel wachsen

20 Jahre Westflügel: Rückblicke aus dem Zettelkasten des Theaterredakteurs

  Flügel wachsen | 20 Jahre Westflügel: Rückblicke aus dem Zettelkasten des Theaterredakteurs

Der Westflügel feiert Geburtstag: Seit 2003 finden in dem Jugendstilhaus im Leipziger Westen Aufführungen statt. Am Donnerstag beginnt das Festival »Twist it! Figur und Tanz«. Der 20. Geburtstag gibt Anlass für kleine Rückblicke auf die Anfangszeit.

Verloren ziehen die Figuren ihre Kreise, manche ausgelassen tanzend, anderen ist die Not in Bewegungen eingeschrieben: zerrüttete Existenzen allesamt. Da erscheint ein steif gewordener Gaukler, hier wiegt eine Frau, deren Berufsbezeichnung nicht »Tänzerin« ist, frivol ihre Hüften, dort raufen anonyme Alkoholiker um den letzten Tropfen. In morbiden Szenarien bewegt sich die Uraufführung vom Figurentheater Wilde & Vogel, die auch die erste eigene Inszenierung des Westflügels ist: »Spleen« nach Charles Baudelaire. Geschehen anno 2006. Schon 2003 fanden erste Bespielungen des Jugendstilhauses statt, das lange als Ofenfabrik und Lager diente. Der 20. Geburtstag gibt Anlass für kleine Rückblicke auf die Anfangszeit. Wer weiß noch, dass der berühmte Peter Brook hier inszenierte, als draußen Leipzigs schlimmster Hagelsturm tobte, oder sich japanisches Theater zum Festival gruppierte?

Beckett als Probe

Im Spiel mit imaginierten Gegenständen und ellipsenartigem Monologisieren über verblasste Erinnerungen verkörpert Miriam Goldschmidt eindrucksvoll den verzweifelten Mut zum Überleben. Bis zu den Schultern eingegraben präsentiert sie sich als brillante Schauspielerin. Auf die Mittel der Sprache und die Gesten ihres Gesichts reduziert, zeigt sie gekonnt, dass dies nicht Beschränkung bedeuten muss und auch ohne raumgreifendes Agieren vielschichtiger Ausdruck möglich ist.

»Glückliche Tage – rehearsal version«, R: Peter Brook, 2006

Knochenbaukasten

»Bitte schalten Sie alle elektronischen Geräte aus. Und Ihre linke Gehirnhälfte. – Die Aufführung beginnt.« – Styx heißt der Unterweltfluss, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten markiert. Diese Linie schreiten die Spieler ab und thematisieren konsequent, was das Figurentheater umtreibt: Wie werden im Spiel tote Objekte lebendig? Durch eingebaute Magneten können Knochen wie im Kinderbaukasten flexibel miteinander verbunden werden und finden sich zu allerlei Skelett-Skulpturen geformt. Aus zwei Stäben etwa wird eine Art Bein, das parallel zum Spielerbein schwingt. Solch körperbezogene Bewegungen der künstlichen Gliedmaßen sind wie anatomische Studien anzuschauen.

»Styx«, R: Florian Feisel / Wiebke Holm, 2010

Liebe, Rausch und Tod

Ruhig, mit kleinen Bewegungen, wird die Europapremiere von »Manji« im Rahmen des Festivals für japanisches Theater eröffnet. Der Titel ist die metaphorische Umschreibung für unterbrochenes Bettgeflüster. Das Figurenpaar durchlebt die Stadien der Liebe, bis sich Krankheit und Tod einschleichen. Zärtliche Gesten und Wollust werden zum Ringen ums Leben. Der männliche Protagonist löst sich auf, der Figurenspieler entpuppt sich als dämonischer Geist. Skelettartig, mit zur Maske gewordenem Gesicht, zelebriert er wild zuckend die Demontage der verbleibenden Puppe.

»Manji«, R: Hoichi Okamoto, 2007

Schöner, düstrer Traum

Nicht modernistisch auf Plüsch und Pop getrimmt schwangen Lust und Leid als zentrale Themen stets mit. Bobo (die von White Wooden Houses) griff die Metaphorik des Volksliedes auf und gab ihr vokalen Ausdruck. Als »Wildvögelein« verweigerte sie trotzig trällernd jenen das Lied, die es mit Gold und Seide lockten: »... und niemand kann mich zwingen.« Mit Megafon und Mikro intonierte sie einen flüsternd-lärmenden Wechselgesang, in »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht« perlten die Worte wie Tropfen von ihren Lippen hinab.

»Bobo singt Volkslieder«, 2006

Alice im Plunderland

Mit Mund und Händen bahnt sich die Kulissenverspeiserin mampfend ihren Weg durch die Dekoration. Sie bricht hier ab, knabbert dort und greift gar zur elektrischen Heckenschere, um sich mundgerechte Stücke zu portionieren. Köstliche Zerstörung und destruktiver Heißhunger legen den Blick auf ein Arsenal diverser Süßigkeiten frei und geben Aussicht auf ein kleines Schlaraffenland, das es zu erkunden gilt. Merkel zögert keine Sekunde, zwängt sich in einen Vogelkäfig, um dessen Gummitierbewohner zu verspeisen, bezwingt einen Popcornvulkan, dem sie zusätzlich ein Paar Dauerlutscher abringt, und durchquert als Aeronautin im schwerelosen Tanz ein Zuckerwattevakuum.

»Sugar«, R: Franziska Merkel, 2007

Alter schützt vor Torheit nicht

Das Shakespeare-Original wird auf ein Zweipersonenstück zusammengekürzt. Die handelnden Personen sind der eindrucksvoll degenerierte Lear und ein beißend-lästerlicher Narr – die Töchter erscheinen nur als Figuren –, in deren Zwiegespräch Bilder und Spuren der Vergangenheit auftauchen. Reizvoll ist ein Dopplereffekt: Narr und König treten zuweilen in Puppengestalt auf. Gerade die kleinen Szenen und Details gewinnen in dieser Minimalaufführung an Gewicht. Etwa wenn ein einsamer Figuren-Lear verzagt an der übergroßen Krone rüttelt.

»King Lear«, R: Hendrik Mannes, 2007

King Lear
Aufführung von »King Lear«, Foto von H. Pogerth

Butt bei die Fische

Bei der Deutschlandpremiere des Nørregaards Teater Ebeltoft (Dänemark) wird ein Badezuber zu Meer und Heimstatt des Butts, aus zwei Hockern entsteht ein Pisspott, der sich kurz darauf zum Palast verwandelt. Einfallsreich gestaltet sich auch der anschwellende Buttgesang: Zunächst aus einer Mülltüte geformt, steigt seine Präsenz stetig an, bis er die ganze Bühne einnimmt und in apokalyptischem Zorn die Wellen über den materiellen Errungenschaften des Fischerpaares zusammenschlagen lässt.

»Konen i Muddergrøften«, R: Michael Vogel, 2006

Sandkasten-Gaia

Magische Momente bedürfen eines besonderen Ortes. So nimmt man durchs Kellerlabyrinth geleitet in einer räucherstäbchengeschwängerten Jurte Platz. In ausladenden Gesten beschwört ein Schamane den Eisprung der Erde. Eine auf die Seite gekippte Kabeltrommel wird zum Tableau für einen Salto mortale durch die Erdgeschichte, Geburt und Tod der Menschheit. Fast ausschließlich Kinderspielzeug findet Einsatz und eine Batterie von Lämpchen, die vielerlei Schattenschabernack ermöglicht. Eine in der Mitte des Tisches befindliche Jurtennachbildung erzeugt im Spiel ums Innen und Außen eine spannende Doppelperspektive. Das Publikum befindet sich in der Position eines ausgeschlossenen Dritten, der doch mittendrin ist.

»Die Caverne ist ein Cosmos«, R: Christian Carrignon, 2006

Schaufenster

Eine Weltkugel promotet »Der Hobbit«, ein gestrandeter Ozeanriese empfiehlt »Die Bessenen«. Robert Voss hat zahlreiche Werbeträger für die darstellende Kunst entworfen und dabei immer eine höchst eigene Handschrift hinterlassen. Seine Theaterplakate sind scheinbar wahllos nebeneinander an eine Wand tapeziert. Steht man vor dieser aufgeschnittenen und geplätteten Litfaßsäule, zeigen sich die Plakate als Schaufenster in fantastische theatrale Welten. Man wird sich beim Gedanken ertappen: »Das Stück muss ich sehen.«

»Robert Voss: Theaterplakate«, 2009


Auf zur Feier

Das Festival »Twist it! Figur und Tanz« ist Auftakt für die Geburtstagssause. Die Produktionen dokumentieren das Profil des Hauses als Produktionsstätte mit interdisziplinärem Ansatz. Der schaurig-schräge Totentanz »Der Reigen« (Christoph Bochdansky) befindet sich darunter und das ritualartige Licht-Schatten-Spiel »Untiefe« (Jan Jedenak). Workshoppräsentationen und Nachgespräche geben experimentelle Einblicke und schaffen Vertiefungen. Gemeinsam gefeiert wird selbstverständlich auch.

> 15.–19.6., Westflügel, www.westfluegel.de

Reigen
Aufführung von »Der Reigen«, Foto von Dana Ersing
Untiefe
Aufführung von »Untiefe«, Foto von Dana Ersing

Titelbild: Urgesteine der Westflügel-Belebung: Michael Vogel und Christoph Bochdansky in einem Reigen. Foto von Jana Gross.


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