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Politik

Leipziger Gewaltschutz am Limit

Opfer häuslicher Gewalt finden in Leipzig oft keinen Schutz

  Leipziger Gewaltschutz am Limit | Opfer häuslicher Gewalt finden in Leipzig oft keinen Schutz

Ein offener Brief und eine Kundgebung parallel zur Stadtratssitzung am 5. Juli fordern mehr Schutzplätze und Personal für das Leipziger Hilfesystem. In diesem Jahr habe man bereits 168 vor häuslicher Gewalt schutzsuchende Frauen und 152 Kinder abweisen müssen.

Seile überziehen den Burgplatz. Daran wehen bunte Zettel im Wind. Wäre das hier ein Fest, könnten es Girlanden sein, aber der Anlass ist Ernst: Jeder Zettel steht für eine Frau oder ein Kind, die Gewalt erfahren haben. Und nicht immer Schutz in Leipzig bekommen konnten. Denn das Hilfesystem in der Stadt ist überlastet. Zufällig vor Ort ist hier kaum jemand. Viele der um die 100 Teilnehmenden kennen und grüßen sich. Die Stimmung ist froh und ernst zugleich.

»Wir sind stolz auf das, was wir in Leipzig errichtet haben«, sagt Gabi Eßbach, Leiterin der Koordinations- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking (KIS), zur Eröffnung der Kundgebung. In den letzten Jahren sei die Dunkelziffer kleiner geworden und ins Hellfeld gerückt: Allein die polizeilichen Mitteilungen nach Einsätzen zu häuslicher Gewalt haben sich seit 2021 verdreifacht. Mehr Frauen, die von Gewalt betroffen sind, suchen sich Hilfe – ein Erfolg für das Gewaltschutzsystem, der allerdings zu einer akuten Notlage führt: Die Kapazitäten des Systems würden dem offensichtlichen Bedarf nicht angepasst werden, so Eßbach. Somit seien nicht ausreichend Beratung und Unterkünfte für die Schutzsuchenden da. 

Eßbach spricht im Namen des Leipziger Hilfesystems, zu dem auch die Sofortaufnahmestelle für betroffene häuslicher Gewalt (SOFA) und vier verschiedenen Frauen- und Kinderschutzhäuser zählen. Sie arbeiten alle zusammen, um Frauen und Kindern, die zu Hause Gewalt erfahren, schnell Schutz zu bieten. Im Idealfall melden die Polizei, Nachbarn oder die Frauen selbst die Tat und die SOFA kann ihnen einen Platz in einem Frauenhaus vermitteln. Dort sollen sich Frauen und Kinder in Sicherheit erholen, die Adressen bleiben gemein. Doch in der Realität sieht es anders aus: Vor allem die Sofortaufnahme und die KIS arbeiten an der Belastungsgrenze, zudem gibt es zu wenig Frauenhausplätze.

In Leipzig fehlen neun Schutzplätze in Frauenhäusern, um die Mindestanforderungen der Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das als völkerrechtlicher Vertrag am 1. August 2014 in Kraft getreten ist, Anm. d. Red.) zu erfüllen. Bisher 501 Personen konnten in diesem Jahr keine Beratung bei der KIS bekommen, 168 Frauen und 152 Kinder mussten im selben Zeitraum bei der SOFA abgewiesen werden. Ein Viertel der Schutzsuchenden wurden von der SOFA als Hochrisiko-Fälle eingestuft, bei denen das Risiko besteht, ermordet zu werden. 

Die Forderungen des Netzwerks, um diesem Bedarf gerecht zu werden, sind konkret: In der Sofortaufnahme brauche es 34 Wochenstunden mehr für die Sozialarbeit, 10 Stunden für Verwaltung, 10 Stunden für die Leitung und eine 30-Stunden-Stelle für eine Kinder- und Jugendfachkraft. In der KIS fehlen knapp fünf Vollzeitstellen für Beratung und Netzwerkarbeit. 

Die prekäre Situation im Hilfesystem wird derzeit von den Mitarbeitenden getragen. In einem offenen Brief fordern KIS und SOFA daher die Stadt Leipzig und das Land Sachsen dazu auf, diese Verantwortung zu übernehmen. Dieser wurde bereits am Montag verschickt, die Kundgebung fand während der monatlichen Stadtratssitzung statt, um die Forderungen noch einmal persönlich zu übergeben und zugleich die Öffentlichkeit über die Problemlage zu informieren. »Unsere Hoffnungen sind, dass die Stadt Leipzig den Druck, den die Frauen spüren, und den wir die ganze Zeit spüren, aufnimmt, und weitergibt an das Land Sachsen, damit wir das nicht mehr aushalten müssen«, so eine Mitarbeiterin der SOFA nach der Kundgebung. Langfristige Forderungen sind neben dem Ausbau des Hilfesystems bezahlbarer Wohnraum für Gewaltbetroffene sowie gewaltsensible Gerichtsprozesse, bei denen der Gewaltschutz nicht durch das Umgangsrecht ausgehebelt werden kann. Dieses Umgangsrecht ermöglicht Gewalttätern, ihre Kinder sehen zu dürfenvund wird in der deutschen Rechtsprechung oft über das Annäherungs- und Kontaktverbot gestellt, das bei häuslicher Gewalt erteilt wird. Ganz konkret: Ein mit Kontaktverbot zu seiner Frau belegter Gewalttäter, der seine Kinder sehen will und darf, muss das mit der Frau absprechen, muss die Kinder irgendwo abholen – und hat also wieder Kontakt zu der Frau und weiß, wo er sie und die Kinder treffen kann.

»Wir nehmen nicht hin, dass von Gewalt betroffene Frauen und Kinder keinen Schutzraum finden«, heißt es in dem Brief, mit Verweis auf die Istanbul Konvention. Seit 2018 hat sich Deutschland mit der Unterzeichnung gesetzlich verpflichtet, einen ausreichenden und flächendeckenden Gewaltschutz für Frauen zu gewährleisten. Bisher wurde das in Sachsen und Leipzig jedoch eher lückenhaft umgesetzt. 

Foto: Maika Schmitt


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