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»Leipzig wurde nicht zur Musikstadt, weil Bach mal hier war«

Der Leipziger Musikwissenschaftler Stefan Keym im Interview über die Musikstadt Leipzig

  »Leipzig wurde nicht zur Musikstadt, weil Bach mal hier war« | Der Leipziger Musikwissenschaftler Stefan Keym im Interview über die Musikstadt Leipzig

Dass das musikwissenschaftliche Institut der Universität Leipzig im Städtischen Kaufhaus untergebracht ist, wo Ende des 15. Jahrhunderts ein Messehaus für Tuch und Wollwaren entstand, das Gewandhaus genannt wurde, werten wir als gutes Omen für unser Gespräch mit Stefan Keym, der seit 2019 Professor für Historische Musikwissenschaft in Leipzig ist.

Im Stadtgeschichtlichen Museum ist derzeit eine Ausstellung zur Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus zu sehen. Was halten Sie davon?

Ich glaube, das ist wirklich eine sehr bedeutende und sehr gelungene Ausstellung, und es war wichtig, das jetzt zu machen. Die Forschung zur Musikstadt Leipzig im NS-Staat wurde ja von Thomas Schinköth, der hier am Institut auch mal Mitarbeiter war, in den neunziger Jahren begonnen – zu einer Zeit, als das nur ganz, ganz wenige Leute interessiert hat. Er war deutschlandweit einer der Pioniere und hat wegweisende Publikationen geschrieben. Es gibt natürlich auch Maren Goltz’ Dis­sertation »Musikstudium in der Diktatur« von 2013 und eine Reihe anderer Arbeiten zu einzelnen Sparten. Aber es ist wichtig, dass es jetzt eine erste Gesamtschau gibt, als Basis. So eine Ausstellung bringt das Thema ja viel stärker ins öffentliche Bewusstsein, als es musikwissenschaftliche Publikationen je könnten. Gerade die Fokussierung auf einzelne Personen und dass gezeigt wird, wie widersprüchlich vieles war und dass manche sowohl Täter als auch Opfer waren, finde ich sehr gelungen.

Können Sie uns diese Epoche der Musikgeschichte Leipzigs ­etwas einordnen? Was macht in Ihren Augen und Ohren die Musikstadt Leipzig aus, heute und vor 1933?

Sie ist historisch dadurch geprägt, dass es hier eine ungewöhnlich große Anzahl an Musik-Institutionen gegeben hat, die eine überregionale, zum Teil auch internationale Bedeutung hatten und sehr eng mit­einander vernetzt waren. Das ermöglichte bestimmte Prozesse, die es in anderen Städten nicht gab, und ist historisch gewachsen seit dem 19. Jahrhundert: Da sind erstens die Musikverlage, zweitens das Gewand­haus und drittens das Konservatorium, also die heu­tige HMT. Diese drei hängen ganz eng zusammen und sind auf jeden Fall wichtiger für die Entwicklung Leipzigs zu einer Musikstadt als die Präsenz großer Komponisten in der Stadt. Die ist unterm Strich nicht wirklich stark. Der einzige, der lange hier war, ist Bach, den zu Lebzeiten nicht so viele Leute für den bedeutendsten Komponisten seiner Zeit hielten.

Was heute ein bisschen anders ist.

Bach, die Thomaskirche und die Thomaner wurden später als viertes Element in das Musikstadt-Ensemble 
integriert, stehen meines Erachtens mit den anderen drei aber nicht direkt in kausaler Beziehung. Die Ansiedlung der vielen Verlage und auch die besondere Rolle des Gewandhauses sind nicht darauf zurück­zuführen, dass irgendwann in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mal Johann Sebastian Bach hier war. Der Bach-Kult gewann in Leipzig erst im Lauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung und dann immer mehr bis heute.

Der Leipziger Musikbetrieb wurde seit dem späten 18. Jahrhundert stark von Bürgern geprägt: von Mäzenen – Kaufleuten, Bankiers, Beamten –, die die Gewandhauskonzerte organisierten, und von Musik­unternehmern: Da sind zuallererst die Verlage zu nennen, später auch der Klavier-Fabrikant Blüthner und andere wie Hupfeld, die Musik-Automaten gebaut haben. Die Gewandhaus-Direktion war bis 1940 privat, das Konservatorium bis 1941, also bis in die Zeit des NS. Dass sich das dann änderte, ist aber nichts, was damals ganz neu war, sondern solche Kommunalisierungen oder Verstaatlichungen waren – wenn man die longue durée überblickt – überall im Gange. In Leipzig erfolgte das aber relativ spät – eben weil die Stadt Vorreiter der privaten bürgerlichen Musikkultur gewesen war und man sich von lange ausgeprägten Traditionen ja ungern verabschiedet. Dieser Prozess hat hier 
in der Weimarer Republik begonnen, ging in der Nazizeit weiter und hatte seinen Abschluss in der DDR.

Die Musikstadt Leipzig war um 1930 also von diesem strukturellen Wandel geprägt?

Ja, auch. Die Oper wurde schon 1910/12 verstaatlicht, die Gewandhaus-Musiker waren ab 1920 städtische Angestellte, die Direktion aber blieb, ebenso wie das Gebäude, noch privat. Sie war kein gewählter Vereinsvorstand, wie etwa in Frankfurt, sondern entschied selbst über ihre Mitglieder. Das war eine Oligarchie, eine quasi geschlossene Gesellschaft, und die Plätze im Gewandhaus wurden vererbt. Für Auswärtige wurden ein paar Plätze freigehalten, 
aber Leipziger, die nicht zur reichen High Society gehörten, kamen in die großen Konzerte nicht rein.

Wie viele Plätze hatte das Gewandhaus denn damals?

Das damalige – zweite – Gewandhaus gegenüber der heutigen Albertina hatte 1.500 Plätze. Das war schon eine Vergrößerung zum Vorgänger, aber immer noch eine sehr elitäre Sache, zumal die Abonnenten den Bau des zweiten Gewandhauses mitfinanziert haben. Und es hat da nur das Gewandhausorchester gespielt – der Saal stand über 300 Tage im Jahr leer. Diese Verhältnisse änderten sich aber natürlich und wurden insbesondere in den zwanziger Jahren zunehmend in Frage gestellt – einerseits, weil es Probleme in der Finanzierung des Orchesters gab, andererseits, weil die linke Mehrheit im Stadtparlament sagte: Die Stadt bezahlt die Musiker und die spielen dann – im Gewandhaus, anders als in der Oper – nur für so eine kleine Gruppe – das geht nicht, wir brauchen Zugang für mehr Leute. Darüber wurden heftige kulturpolitische Debatten im Rat und in der Presse geführt. Man muss sich darüber klar sein, dass es Ende der zwanziger Jahre wirtschaftlich sehr prekär an Oper und Gewandhaus zuging. Ja, Gewandhaus-Kapellmeister Bruno Walter und Opern-Generalmusikdirektor Gustav Brecher mussten 1933 sofort gehen. Aber beide waren schon nur noch kommissarisch im Amt, weil kein Geld da war – vor allem Brecher wäre wahrscheinlich eh nicht länger geblieben. Es ist also nicht so, dass es ein hervorragend funktionierendes Musikleben gab und dann die Nazis kamen und alles kaputt gemacht haben. Sie haben sich vielmehr die prekäre Lage und die Verlustängste von Musikern 
und Publikum zunutze gemacht. Auch das ebenfalls private Konservatorium ist in den zwanziger Jahren massiv gefährdet gewesen. Man wollte quasi unter Landes­hoheit, wobei Dresden immer das dortige Konservatorium bevorzugte – es gab sogar die Idee, Leipzig zu einer Filiale von Dresden zu machen! Ab 1926 gab es dann Zuschüsse, jedes Jahr neu beantragt. Auch hier also: in keiner Weise sicher.

Weil es um die Zeit 1933–45 an anderer Stelle geht, machen wir einen Sprung: Wie sah es dann Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in der Musikstadt Leipzig aus?

Man kann schon sagen, dass Leipzig in der DDR das Musikstadt-Erbe des 19. Jahrhunderts aufgegriffen und die Gewandhaus-Tradition weitergeführt hat – aber eben mit einem sehr viel breiteren Publikum und auch mit einem deutlich erweiterten, internatio­naleren und zumindest etwas moderneren Repertoire. Für Institu­tionen wie das Gewandhaus und das Konservatorium – seit 1946 nach seinem Gründer Mendelssohn benannt – ist es letztlich ein Segen gewesen, dass die Stadt bzw. der Staat sie übernommen hatte. Das ist die Grundlage dafür, dass sie bis heute international so erfolgreich sind.

Das Bach-Archiv wurde 1950 als zentrale Dokumentationsstelle und wissenschaftliche Einrichtung gegründet. Die Musikwissenschaft in der DDR konzentrierte sich ja stark auf die einheimischen Komponisten Händel, Bach, Telemann, die aber natürlich auch kirchliche Werke geschrieben haben, was im Widerspruch zur DDR steht, aber mit etwas gewundenen Argumentationen gebilligt wurde.

Im Verlagswesen gab es deutliche Brüche: Schon im NS wurden die jüdischen Verleger enteignet und nach 1945 sind fast alle Musik­verleger weggegangen, wobei die Verlage hier als volkseigene Betriebe weitergeführt wurden, es also seltsame Doppelstrukturen in Ost und West gab.

Eine interessante Persönlichkeit dieser Zeit ist übrigens Paul Schmitz: Er war seit 1933 Generalmusikdirektor der Oper und blieb es bis 1951, war dann ein paar Jahre in Kassel und kam nach seiner Pensionierung dort zurück, um 1964 erneut GMD der Oper zu werden (bis 1973). Ein seltsames Kapitel deutsch-deutscher Musikgeschichte, über das ich gern mehr wüsste.

Sie haben vorhin vor Gewandhaus, HMT und Bach die Musikverlage als erstes Element der Musikstadt genannt. Das ist für einige sicher überraschend.

Die Musikverlage sind die Grundlage dafür, dass Leipzig eine Musikstadt wurde. Das ist das Allerwichtigste. Die Verlage sind im frühen 19. Jahrhundert ganz eng mit dem Gewandhaus vernetzt. Mehrere der Verlagsinhaber sitzen im Gewandhaus-Direktorium und sie unterhalten auch die Musikzeitschriften wie die von Breitkopf & Härtel edierte Allgemeine Musikalische Zeitung. Diese wurde lange als rein ästhetisches Blatt betrachtet, aber da waren immer handfeste kommerzielle Interessen mit dabei. Der erste Chefredakteur Friedrich Rochlitz – nach dem eine Straße in Schleußig benannt ist – war zugleich für die Programmgestaltung am Gewandhaus zuständig und hat in seiner deutschlandweit gelesenen Zeitung permanent für das Gewandhaus Werbung gemacht. Eigentlich paradox: Viele Leipziger kamen nie rein ins Gewandhaus und gleichzeitig war man überregional über dieses bestens informiert, wodurch Leipzig seine Stellung als Musikstadt auch außerhalb gefestigt hat. Im Verlagswesen bleibt die Stadt im Grunde bis 1945 das wichtigste Zentrum. Das ist wirklich einzigartig in der Welt, aber natürlich nicht so leicht anschaulich zu machen – auch, weil vieles abgerissen wurde oder wie das Hauptgebäude von Breitkopf 
& Härtel bei der Bombardierung Leipzigs 1943 zerstört wurde. Dieses wahnsinnig große Gebäude, das war ja ein wahres Imperium, mit Hunderten von Mitarbeitern!

Welchen der sehr vielen Aspekte in dieser Musikstadt schätzen Sie persönlich besonders?

Was mich absolut frappiert hat, als ich nach Leipzig kam, ist, dass Johann Sebastian Bach in der Thomaskiche in einem Kirchenfenster zu sehen ist. Der Komponist quasi als Heiliger – das gibt es so, glaube ich, sonst nirgends. Es ist auch kein anderer Komponist lange nach seinem Tod so stark aufgewertet worden. Und ich finde sehr schön, dass Mendelssohn auch ein Fenster hat.

Ich forsche viel zu den internationalen Beziehungen der Musikstadt Leipzig, die international viel wichtiger war und ist als die Buchstadt, die ja außerhalb des deutschsprachigen Marktes kaum relevant ist. Bei der Musik sieht das völlig anders aus, besonders in Japan und den USA. Mein Eindruck ist, dass im 18. und 19. Jahrhundert das Literarische stärker dominiert hat. In der Rückschau ist es aber eher die Musik, die bleibt. Nehmen wir Bach und Gottsched, die zur selben Zeit in Leipzig waren: Der Schriftsteller war zu Lebzeiten viel bekannter als der Komponist. Aber wer liest heute noch Dramen von Gottsched? 
INTERVIEW: BENJAMIN HEINE


Titelfoto von Henry W. Laurisch; zeigt Stefan Keym, Professor für Historische Musikwissenschaft, in seinem Büro an der Uni


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