Das mehrteilige Projekt »Wind Opera« von Heike Hennig und Anija Seedler macht noch bis zum 11. August Station in der Chemnitzer Galerie Oscar.
»Hauptursache für Wind sind räumliche Unterschiede der Luftdruckverteilung. Dabei bewegen sich Luftteilchen aus dem Gebiet mit einem höheren Luftdruck – dem Hochdruckgebiet – so lange in das Gebiet mit dem niedrigen Luftdruck – das Tiefdruckgebiet –, bis der Luftdruck ausgeglichen ist. Bei Wind handelt es sich daher um einen Massenstrom, der nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine Gleichverteilung der Teilchen im Raum und damit eine maximale Entropie anstrebt. Je größer der Unterschied zwischen den Luftdrücken ist, umso heftiger strömen die Luftmassen in das Gebiet mit dem niedrigen Luftdruck und umso stärker ist der aus der Luftbewegung resultierende Wind.« – Richtig geraten, so beschreibt Wikipedia den Wind und dessen Entstehung. Jede und jeder kann Wind empfinden, tritt gegen ihn an, misst sich mit ihm im Gehen oder beim Halten von Gegenständen, schreit oder flüstert mit ihm oder gegen ihn an. Um mit dem Wind allerdings in einen Dialog zu treten und ihn gar als Element in einer Rolle in einem Kunstprojekt zu gewinnen, braucht es nicht nur Kraft für den Kampf gegen die Luftdruckverteilung, sondern auch viel Geduld für den Massenstrom.
Seit Anfang des Jahres recherchierten die Regisseurin und Choreografin Heike Hennig und die bildende Künstlerin Anija Seedler mit, zu und gegen den Wind. Dafür suchten sie sich einen Ort im Muldental: Hier bei Sitten nahe Leisnig stehen seit fast 25 Jahren Windräder an der Autobahn zwischen Leipzig und Dresden. Ihre Flügel besitzen Ausmaße von 70,5 bis 90 Meter Durchmesser. Das modernste, größte und höchste Modell, das erst seit vergangenem Herbst den Wind als Energiequelle nutzt, hat sogar einen Durchmesser von 150 Metern.
Das Surren der Räder tritt dabei in Nachbarschaft zum scheinbar nie abreißenden Lautstrom, den die Blechlawine auf der A 14 rund um die Uhr produziert. Dieses Bild der modernen Gesellschaft zwischen grenzenloser Mobilität und erneuerbarer Energie kombinieren Heike Hennig und Anija Seedler mit neuen Bildern, Geräuschen und Bewegungen in ihrem mehrteiligen Projekt »Wind Opera«, das derzeit in der Chemnitzer Galerie Oscar zu sehen ist.
Den Wind einfangen, bändigen wollen, als Teil einer künstlerischen Intervention verpflichten, klingt utopisch. Das vierteilige Projekt erzählt von der Annäherung an den Wind und die Gegend sowie von den Menschen, die um den Windpark leben, aber auch von den uralten Mythen und immer noch aktuellen Bildern, die am Wind hängen.
Im Video in der Ausstellung sind Hennig und Seedler auf dem Feld zu sehen. Jeden Mittwoch fuhren sie an den Ort und beobachteten den Wind und die Natur und versuchten, gemeinsam einen Einklang oder zumindest eine zeitweise Zusammenarbeit zu erreichen. Fallschirmseide dient als Material für einen überdimensionalen Rock der Windsbraut, wie Don Quijote versuchen sie sich in Beziehung zu den Windrädern zu setzen. Auf dem Acker, der sich mal schneebedeckt, mal schlammig, mal voller Pflanzen präsentiert, fällt das Laufen mit den Instrumenten, die den Wind einfangen wollen, umso schwerer. Plötzlich ergeben sich von Seiten aller an der Projektrecherche Beteiligten Geräusche, die der Wind verbindet. Zudem nutzen sie die vorhandenen Bedingungen neu: Aus den Spargelstangen – wie der bayrische Ministerpräsident Windräder einmal bezeichnete – wird plötzlich ein Gesangsraum, das Windradgehäuse zu einer Kathedrale, durch die barocker Gesang gen Himmel fliegt – wie es Anfang Juni bei der Aufführung der »Wind Opera« im Windpark Sitten vor und mit 300 Leuten geschah. Pünktlich zur Premiere schien die Sonne, glänzte ein blauer Himmel zu Beginn, ging die Sonne zum Schluss romantisch-kitschig unter und lieferte der Wind genügend Strom für ein Lüftchen, so dass auch Otto Lilienthal mit einem Flugkonstrukt auftreten konnte. Zwischen Barockklängen, Volkslied und »Wind of Change« trugen alle Anwesenden das tausend Meter lange Brauttuch der Windsbraut gemeinsam über den Acker. Politische, mythologische und körperliche Dimensionen des Windes liegen dabei in vielen Schichten nicht nur unter und auf dem Boden, sondern auch in den Körpern und Köpfen der Menschen. Denn das Surren der Windräder und der Autos wirkt immer mit.
In der Chemnitzer Galerie Oscar zeigen nun Hennig und Seedler die Elemente der »Wind Opera« neben den Recherchen und den zahlreichen dazu entstandenen Zeichnungen und Bildarbeiten von Seedler. Von der Decke hängen oder am Boden liegen die Stoffelemente, die im Video ihre unbändigen Kräfte mit und gegen den Wind auf dem Feld präsentieren.
Zum Ende der Ausstellung am 11. August stellen Hennig und Seedler zudem noch ein weiteres Ergebnis der Recherche vor: eine 16-seitige Broschüre, die das gesamte Projekt begleitet von den Recherchen und Reflexionen zum Wind in seinen vielen Gestalten und Kräften bis zu den damit verbundenen Träumen und Geschichten.
BRITT SCHLEHAHN
■ »Wind Opera«: bis 11.8., Galerie Oscar, Chemnitz