Geflüchtete Menschen, die eine Behinderung haben, sind nach EU-Richtlinien besonders schutzbedürftig. Eine Studie der Caritas hat gezeigt, dass die passenden Hilfsangebote für sie aber noch fehlen. Hanna Gradulewski und die Caritas beraten und unterstützen Betroffene.
Rund zehn Prozent der Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. Das sagen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Unter den hier lebenden Geflüchteten vermutet eine Studie der Caritas sogar einen Anteil von rund 15 Prozent – offizielle Zahlen zur Gruppe nach Deutschland geflüchteter Menschen mit Behinderung gibt es bisher nicht. Aber 15 Prozent von 3,08 Millionen Menschen – die Zahl der Geflüchteten laut Statistischem Bundesamt – sind rund 460.000. Zur Erinnerung: So viele Einwohnerinnen und Einwohner hatte Leipzig Mitte der neunziger Jahre. Diese 460.000 Menschen – psychische Erkrankungen durch Flucht, Folter oder Verfolgung sind in der Zahl nicht mal mit eingerechnet – haben einen besonderen Schutzbedarf. Sie haben Probleme mit Unterkünften, die nicht barrierefrei sind, mit nicht inklusiven Bildungsangeboten und eingeschränkten Sozial- und Gesundheitsleistungen. Es fehlen ihnen oftmals Informationen über die hiesigen Selbsthilfestrukturen und Hilfesysteme, weswegen sie Unterstützungsangebote oft nicht in Anspruch nehmen. Es gibt diese 460.000 Menschen, aber sie existieren statistisch nicht. Warum ist diese Gruppe immer noch unsichtbar?
Die Unsichtbaren
Das hat mehrere Ursachen. Auf der einen Seite sollen schutzsuchende Menschen in Deutschland – genau wie alle anderen – die sogenannten Regeldienste (Einrichtungen der Behinderten-, Jugend-, Familien- und Altenhilfe) in Anspruch nehmen. Diese seien jedoch nicht dafür ausgelegt und Weiterbildungen also dringend nötig, ergab die Studie der Caritas. Aktuell bleibe die Gruppe damit unsichtbar zwischen den Systemen von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung einerseits und der Beratung, Unterstützung und Versorgung von Menschen mit Behinderung andererseits. Besser wäre eine Beratungsstelle an der Schnittstelle Flucht und Behinderung, findet Caritas-Mitarbeiterin Hanna Gradulewski. Sie selbst arbeitet in Leipzig an ebenjener Schnittstelle – jedoch eher wegen ihres besonderen Interesses und der Bereitschaft der Caritas Leipzig dazu. Denn Gradulewski bekleidet zwei Stellen: eine mit 20 Stunden in der Beratung für Menschen mit Behinderung, bezahlt von der Stadt Leipzig, und eine mit 16 Stunden in der Migrationsberatung, bezahlt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. »In der Praxis lässt sich dies allerdings nicht immer trennen«, sagt sie, »75 Prozent meiner Klient:innen haben eine Behinderung und Migrationshintergrund.« Zwar existiert diese Schnittstelle offiziell gar nicht, aber es spricht sich offenbar herum – und entsprechende Fälle werden an Gradulewski weitergeleitet. Es sind viele Anfragen und deren Bearbeitung ist kompliziert und dementsprechend langwierig.
Auf der anderen Seite ist auch die Identifizierung vor allem von nicht sichtbaren Behinderungen eine Herausforderung. Dafür gibt es bundesweit keinerlei einheitliches System. Handicap International, eine gemeinnütziger Verein, der sich in rund 60 Ländern um die Verbesserung der Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung bemüht, stellt mit den »Washington Group Questions« ein entsprechendes System zur Verfügung. Dieses besteht aus einer Reihe von Fragen zur Identifizierung von Personen mit funktionellen Einschränkungen, ist jedoch noch nicht ratifiziert in die deutsche Sprache übersetzt worden.
Die unsichtbaren Hilfsangebote
Laut der Studie hat die Mehrzahl der geflüchteten Menschen mit Behinderung, die in die Beratungsstellen der Caritas kommen, einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland. Mit anderen Worten: Der langwierige Prozess der Genehmigung dafür liegt bereits hinter ihnen, ehe sie erstmals in die Unterstützungsstrukturen kommen. Ihre größten Anliegen sind dabei Fragen zum Aufenthaltsrecht, zur Feststellung des Pflegegrades, zur Beantragung des Schwerbehindertenausweises und zum Anspruch auf Sozialleistungen.
Das fehlende Wissen um den Leistungsanspruch für geflüchtete Menschen mit Behinderung beklagen Berater und Beraterinnen am meisten, so die Studie. Ebenfalls beklagen sie das restriktive Asylbewerberleistungsgesetz, das die Gesundheitsleistungen für geflüchtete Menschen mit Behinderung deutlich einschränke. Weiterhin seien Sprachbarrieren eine große Herausforderung, besonders für die Behindertenhilfe. Nur die wenigsten Dienste können auf professionell geschulte Dolmetscherinnen und Dolmetscher zurückgreifen. In Leipzig ist das anders. So ist Gradulewski froh, das Sprint-Sprachmittlungsprogramm nutzen zu können, das ihr Dolmetscher und
Dolmetscherinnen unkompliziert zur Verfügung stellt: »Ohne dieses Programm wäre meine Arbeit nicht möglich.« Zusätzlich wünscht sie sich aber eine Ausweitung des Programms, um auch Zugriff auf
Gebärdensprachdolmetscher zu haben und Übersetzungsarbeit bei Arztbesuchen zur Verfügung stellen zu können.
Laut der Studie wäre es wichtig, dass die Behindertenhilfe direkt in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften auf ihre Angebote aufmerksam machen kann. Des Weiteren wäre eine Integration geflüchteter Menschen mit Behinderung in die Beratungsangebote sinnvoll, um diese besser einzubinden und selbst zu Wort kommen zu lassen.
Um geflüchtete Menschen auch behinderungsspezifisch ausreichend unterstützen zu können, wären andere Fachstellen mit spezialisierten Kenntnissen hilfreich. Diese hinzuzuziehen ist jedoch leichter gesagt als getan. In Leipzig sind dahingehend aber Bemühungen in den letzten Jahren zu erkennen: 2020/21 gab es drei Werkstattgespräche zur »Teilhabe im Kontext von Migration und Behinderung«. Diverse Akteure, Dienste und Beratungsstellen, darunter die Caritas Leipzig, das Sozialamt, die Diakonie, der Behindertenverband und der DRK-Kreisverband Leipzig, zeigten darin Bedarf nach Austausch. Daraufhin initiierten die städtischen Vertreterinnen und Vertreter einen Arbeitskreis als Plattform. Ein Jahr später kam es in der Fachstelle Migration und Behinderung Sachsen, die in Chemnitz sitzt, zum Austausch über ukrainische Geflüchtete mit Behinderung und seit diesem Jahr nun auch zu generellem Austausch über Flucht und Behinderung. Zusätzlich richtet Handicap international Netzwerktreffen aus.
Trotzdem ist in Leipzig die Caritas immer noch die einzige Institution, die entsprechende Angebote zur Verfügung stellt. Verzweifelt ist Hanna Gradulewski dennoch keineswegs: »Es ist ein Feld, in dem man immer wieder etwas Neues lernt. Mit jeder Beratung kommt etwas Neues dazu. Das ist schön und auch deswegen liebe ich meine Arbeit.« Menschen zu helfen, motiviere sie dabei immer weiter, besonders wenn immer größere Fortschritte zu erkennen sind. Wenn dann die Beratung irgendwann nicht mehr nötig ist, sei das »das Schönste«.
■ Studie der Caritas