anzeige
anzeige
Stadtleben

Sieben Monate Haft für Hallenser Neonazi

Grund ist der Angriff auf einen Fotografen im November 2020 bei einer Querdenken-Veranstaltung.

  Sieben Monate Haft für Hallenser Neonazi | Grund ist der Angriff auf einen Fotografen im November 2020 bei einer Querdenken-Veranstaltung.  Foto: Olaf Meister

Anfang November 2020 steigen in Deutschland die Corona-Fallzahlen rapide an, der Beginn der zweiten Infektionswelle. Für den 7. November meldet die Initiative Querdenken eine Versammlung zum Protest gegen die Corona-Maßnahmen auf dem Leipziger Innenstadtring an. Die Stadt will die Demonstration auf das Messegelände verlegen, doch das Oberverwaltungsgericht Bautzen kippt den Beschluss in letzter Minute. 20.000 Menschen kommen in die Leipziger Innenstadt. Am frühen Abend geht ein Video viral: Fünf Personen, eine davon ist bis heute unbekannt, schlagen knapp 15 Sekunden lang auf einen Fotografen ein. Einer der fünf – in einen weißen Schutzanzug gekleidet – ist der bekannte Rechtsextremist Sven Liebich aus Halle.

342 Verfahren waren Stand März bei der Staatsanwaltschaft Halle gegen Liebich anhängig. Seit den neunziger Jahren ist er in der rechtsextremen Szene aktiv, vertrieb unter anderen Neonazi-Musik. Verurteilt wurde er bisher meistens nur zu Geldstrafen, einmal erhielt er eine Bewährungsstrafe. Jahrelang hatte Liebich das Gefängnis umgangen. Rechtsanwalt Erkan Zünbül, der den angegriffenen Fotografen in Leipzig vertritt, bezeichnet Liebich in seinem Plädoyer als »Justizwunder«. Im Juli 2023 verurteilte das Amtsgericht Halle Liebich erstmals zu einer Freiheitsstrafe: anderthalb Jahre Haft ohne Bewährung, unter anderem wegen Volksverhetzung und übler Nachrede. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Verteidigung und Staatsanwaltschaft haben Berufung eingelegt.

Fast drei Jahre nach dem Angriff in Leipzig sitzen Liebich und die drei Mitangeklagten Caroline K., Uwe H. und Matthias B. in Saal 100 des Amtsgerichts Leipzig. Um zu rekonstruieren, was im November 2020 passierte, werden etliche Videos im Gerichtssaal abgespielt, teilweise in halber Geschwindigkeit, immer wieder gestoppt und wiederholt. Als »gut dokumentiert« bezeichnet die vorsitzende Richterin Lena Zunft die Szene, die im Mittelpunkt dieses Prozesses steht.

Für Richterin Zunft ergibt sich ein klares Bild: Alle vier Angeklagten hätten gemeinschaftlich den Fotografen Christian S. (Name von der Redaktion geändert) angegriffen. Dabei habe es ein »arbeitsteiliges Zusammenwirken« gegeben, ebenso wie einen »gemeinsamen Tatentschluss«, der auch stillschweigend erfolgen könne. Damit folgte die Richterin Staatsanwalt Manuel Rothe und Verteidiger Zünbül, die zuvor beide den Gruppencharakter der Tat herausgestellt hatten.

Die Angeklagten kannten sich zum Tatzeitpunkt bereits von Demonstrationen aus Halle, wo Liebich seit 2014 jeden Montag Versammlungen veranstaltet. Bis 2067 habe er bereits Demonstrationen angemeldet, erklärt er stolz am Amtsgericht. In Halle trafen die Angeklagten auch mehrfach auf den angegriffenen Fotografen. Liebich und S. befanden sich zudem bereits einmal in einer körperlichen Auseinandersetzung. Ein Verfahren dazu wurde im beidseitigen Einvernehmen eingestellt. »Sie kennen sich, sie hassen sich«, sagt Staatsanwalt Rothe zum Verhältnis der beiden.

In Leipzig begegnete die Gruppe S. bereits einige Stunden vor dem Angriff in der Nähe des Augustusplatzes. »Dich kriegen wir auch noch«, soll ein Mann aus der Gruppe in Richtung von S. gerufen haben, sagt der in seiner Zeugenaussage. Zwischen diesem Zusammentreffen und dem Angriff vergingen mehrere Stunden. Die Leipziger Versammlungsbehörde hatte die Querdenken-Demonstration unterdessen aufgelöst. Trotzdem konnte die Polizei nicht verhindern, dass Tausende über den Ring zogen, darunter zahlreiche gewaltbereite Neonazis und Hooligans. Beamte wurden aus dem Aufzug heraus mit Pyrotechnik angegriffen, die Polizei antwortete mit Pfefferspray. Laut Verdi hätten sich danach allein 32 Journalisten mit Verletzungen gemeldet.

Liebich habe sich an dem Abend an die Friedliche Revolution erinnert gefühlt, bezeichnet die Stimmung vor Gericht als euphorisch. Staatsanwalt Rothe beschreibt es etwas anders: »Die Leute waren geladen, waren auf Spannung. Sie wollten zeigen, dass sie es dem Staat jetzt geben und dass sie niemand mehr beschränken kann.« Als sich am Willy-Brand-Platz die Polizeikette auflöste, standen die Demonstrierenden plötzlich unmittelbar vor Pressevertreterinnen und -vertretern – »Systemmedien, Lügenpresse, wie sie diese Menschen bezeichnen«, sagt Rothe.

Auch Liebich und S. standen auf einmal wenige Meter voneinander entfernt. Sie sahen sich. Die folgende Auseinandersetzung beschreibt Richterin Zunft so: S. habe ein paar Schritte zurück gemacht, um dann auf Liebich zuzugehen und ihm einen »Schlag oder Schubser« gegen den Kopf zu verpassen. Den Impuls bezeichnet Zunft als »heftig«. Ob es sich tatsächlich um einen Schlag, wie es Liebichs Anwalt Sebastian Lehr nennt, oder doch um einen Schubser handelte, wird in einem anderen Verfahren am Amtsgericht Leipzig geklärt werden, bei dem S. als Angeklagter vor Gericht steht.

Der hatte sich nach kurzem Zögern aber bereits in seiner Zeugenaussage eingelassen. Liebich habe nur etwa einen halben Meter vor ihm gestanden, weswegen er den Neonazi wegschieben wollte, um ihn auf Distanz zu halten. Von einem Schlag spricht S. nicht, der Verletzungen an Kopf und Schulter davontrug. Auch Staatsanwalt Rothe zeigt sich in seinem Plädoyer nicht mehr von seiner ursprünglichen Anklage überzeugt, in der noch von einem Schlag gesprochen hatte. In seinem Plädoyer weist Rothe darauf hin, dass S. zum Zeitpunkt des Vorfalls bereits inmitten von Demonstrierenden stand. »In so einer Situation soll jetzt Herr S. Liebich eine verpasst haben – das passt doch nicht, das ist doch Selbstmord.«

Liebich klammerte sich im Anschluss an das Schubsen oder Schlagen an S., laut eigener Aussage, um ihn zur Polizei zu bringen. Richterin Zunft hält das für unglaubwürdig. Auch als der Fotograf mehrere Schritte nach hinten machte, um aus der Situation zu entkommen, ließ Liebich nicht von ihm ab. Aus dem Hintergrund kam ein vermummter Mann hinzu, den die Richterin aufgrund der Zeugenaussagen von S. und seiner Begleitung sowie den Lichtbildern zweifelsfrei als Uwe H. identifiziert. Er trat auf S. ein, schlug ihm auf den Hinterkopf. Wenig später mischte sich auch Liebichs damalige Freundin Caroline K. mit ein.

Vor Gericht erklärt ihre Verteidigerin Christina Reißmann, wie K. den Angriff wahrnahm. Auf Rückfragen von Zunft antwortet K. teilweise aggressiv. Sie habe Liebich helfen wollen, erst als S. in ihre Richtung getreten habe, hätte sie mit der Hand zugeschlagen, in der sie noch ihr Handy hielt. K. bezeichnet das als Notwehr. Zunft widerspricht dieser Darstellung. S.’ Tritt in Richtung K. sei gerechtfertigt gewesen, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits umzingelt war und mehrere Schläge abbekommen hatte. Die Schläge von K. seien keine unmittelbare Reaktion auf den Tritt von S. gewesen, erfolgten erst Sekunden nach dem vermeintlichen Tritt. K. hatte nach dem Angriff noch bis Anfang 2022 als Erzieherin in einer Kita in Halle gearbeitet. Erst als Eltern protestierten, wurde sie entlassen, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete.

Den vierten Angeklagten Matthias B. bezeichnet Staatsanwalt Rothe in seinem Plädoyer als »tragische Figur«. B. kommt als Letzter aus dem Hintergrund zum Geschehen gerannt, findet aufgrund der Umzingelung aber keine Möglichkeit S. anzugreifen, den er in der Situation als »Wichser« beleidigt. Laut Rothe und Zunft habe B. besonders aggressiv gewirkt. In dem Moment, als B. zum Tritt ausholte, zog S.’ Begleiterin den Angegriffenen aus der Situation. B.s Verteidiger Erik Bergmüller plädiert auf Freispruch wegen fehlender Tatbeteiligung. Aufgrund des Gruppencharakters der Tat, die Zunft feststellt, ist eine direkte Beteiligung allerdings gar nicht notwendig für die Verurteilung.

Zunft verurteilt Sven Liebich zu sieben Monaten Haft. Die Richterin sieht es als sicher an, dass Liebich weiterhin Straftaten begehen werde. »Bis er stirbt«, sagt Staatsanwalt Rothe, wolle Liebich in der Öffentlichkeit stehen. Eine Bewährung käme daher nicht infrage, sagt Zunft. Caroline K., gleichzeitig noch wegen des Mitführens von Cannabis in geringer Menge verurteilt, erhält eine Freiheitsstrafe über sieben Monate und einer Woche, ausgesetzt zu einer zweijährigen Bewährung, sowie 150 Sozialstunden. Sie war bisher nicht vorbestraft. Matthias B.s sechsmonatige Haftstrafe wird ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt, auch er muss 150 Sozialstunden leisten. B. hatte bereits 14 Einträge im Bundeszentralregister, darunter Vorstrafen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Nötigung und Beleidigung. Uwe H., der unter anderem wegen des Zeigens des Hitlergrußes bereits vorbestraft war, wird unter Einbeziehung voriger Straftaten zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, außerdem muss er 1.500 Euro an den Verein Weißer Ring zahlen, der Kriminalitätsopfer unterstützt.

Mit den Urteilen folgt Zunft weitgehend den Forderungen von Staatsanwalt Rothe. Die Verteidigung hat noch bis zum 29. September Zeit, um gegen das Urteil Rechtsmittel einzulegen.


Kommentieren


0 Kommentar(e)