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Kultur

Perfektion ist das Mindeste

Tobias Rüther und Robert Koall sprechen über Wolfgang Herrndorf und die erste Biographie des »Tschick«-Autors

  Perfektion ist das Mindeste | Tobias Rüther und Robert Koall sprechen über Wolfgang Herrndorf und die erste Biographie des »Tschick«-Autors  Foto: Alexandra Huth

»Ich bin heute die Überraschung«, sagt Welt-Journalist Marc Reichwein als er den Abend beim Literarischen Herbst für Wolfgang Herrndorf in der ausverkauften Nato eröffnet. Denn eigentlich sollte die MDR-Redakteurin Katrin Schumacher durch den Abend führen, sie fällt krankheitsbedingt aus. Im Mittelpunkt stehen aber ohnehin Tobias Rüther und Robert Koall. Rüther, verantwortlicher Literaturredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hat im September die erste Biographie über Wolfgang Herrndorf veröffentlicht. Und das, obwohl der Maler und Romanautor, der sich vor zehn Jahren das Leben nahm, keine Biographie wollte und testamentarisch verfügte: »Niemals Germanisten ranlassen«. Er habe die Deutungshoheit über sich und sein Werk behalten wollen, sagt Dramaturg Koall, der Herrndorf gut kannte und seinen Erfolgsroman »Tschick« für die Theaterbühne adaptierte. »Ich habe Angst gehabt vor dem Buch«, sagt Koall über die 384 Seiten starke Biographie, aber er finde das Ergebnis gut, »wenig Interpretation, viel Zeitzeugenschaft« – nur um Augenblicke später ein ironisches »Werbeblock Ende« anzufügen.

Dass Rüther Herrndorf nicht persönlich kannte, mutet bei einem solchen Buchprojekt zunächst seltsam an. Aber vielleicht braucht es einen gewissen Abstand, um eine Persönlichkeit dieser Größe und Strahlkraft in Worte fassen zu können. Und Rüthers glühende Begeisterung für Herrndorfs Werk ist spürbar, er habe »über niemanden in der deutschen Literatur so viel geschrieben wie über Wolfgang Herrndorf«. Für das Gespräch ist Koalls Anwesenheit aber dennoch von großer Bedeutung, denn er tritt eine Kette von Erinnerungen und Anekdoten los, die den ruhelosen, perfektionistischen, halb im Internet lebenden Künstler greifbar machen.

Es geht um Herrndorfs frühe Jahre in Nürnberg und Berlin, seine Begeisterung für das Internetforum »Wir höflichen Paparazzi«, das ein »Nährboden für Sozialphobiker mit Sendungsbewusstsein« war, sagt Koall. Es geht um Herrndorfs erste literarische Versuche, die sich eigentlich schon in den Briefen formten, die er als Jugendlicher schrieb. Und es geht um die Krebserkrankung, die den Autor dazu brachte, sein Leben zu beenden – die aber auch der Auslöser für das enorme literarische Schaffen war, das seine letzten Jahre bestimmte. Nach der Diagnose vollendete er »Tschick«, schrieb den Spionage-Wüsten-Roman »Sand« und das Romanfragment »Bilder deiner großen Liebe«.

Aber Rüther und Koall konzentrieren sich beim Erzählen viel auf den frühen Herrndorf, der etwa 2004 zum Bachmann-Preis nach Klagenfurt eingeladen wird und den Publikumspreis gewinnt – laut Koall unter anderem deshalb, weil sich zahlreiche Freunde aus dem Internetforum verschiedene E-Mail-Adressen anlegen und damit für Herrndorf abstimmen. Damals war eben auch Internet-Voting noch Neuland.

In der abschließenden Fragerunde dreht sich überraschenderweise vieles um Herrndorf als Maler, nicht als Schriftsteller. Wo seine Werke jetzt seien, fragt eine Dame, die andere möchte wissen, ob eine Gesamtausstellung geplant sei. Herrndorf fasziniert heute vielleicht mehr denn je, mit seiner Gegenwartsaffinität bei gleichzeitiger Faszination für alte Meister und bestimmte literarische Formate, denen er gerecht werden wollte. Der Abend zeigt, dass es immer wieder neue Wege geben wird, sich einem Phänomen wie Wolfgang Herrndorf zu nähern, der, wie Rüther mit beinahe kindlicher Bewunderung sagt, »nie irgendetwas gemacht hat, ohne es richtig gut zu machen«.

Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt 2023. 384 S., 25 €


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