»Weniger ist mehr« lautet der inoffizielle Festival-Slogan der diesjährigen Leipziger Euro-Scene, die am Dienstag startet. Jedenfalls könnte man ihn als Überschrift verstehen. Denn der Chef des Theaterfestivals, Christian Watty, verwies bei der Programmvorstellung ausdrücklich auf das gleichnamige Buch von Jason Hickel. In jenem »Weniger ist mehr« knöpft sich der Wirtschaftsanthropologe unsere ökonomische Ordnung vor, die den Menschen statt Wohlstand für alle, ein Leben voll künstlicher Verknappung, sozialer Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung gebracht hat. Ebenso politisch und zeitkritisch soll es, so Festivaldirektor Watty, auch auf den Leipziger Bühnen zugehen. Die Kunst wird darunter nicht leiden – zumindest im vergangenen Jahr ist diese Feier des Theaters geglückt.
Erneut sind bis Sonntag Hochkaräter zu sehen. Nicht alle Produktionen schauen auf die Grenzen des Wachstums, aber einige von ihnen. Natürlich ästhetisch interessant und auf künstlerische Weise, nicht pädagogisch oder bloß dokumentarisch.
Zum Auftakt schickt die belgische Choreografin Miet Warlop mit einem schweißtreibenden Gemeinschaftsritual ihre Compagnie samt Publikum in die Erschöpfung. Die New York Times feierte »One Song« als eine der besten Produktionen von 2022. Eine Gruppe von Musikern spielt einen einzelnen Song im Loop, während die Tanzenden ein extremes Training absolvieren. Auch die Musiker geben alles, ein Geiger etwa spielt, während er auf einem Schwebebalken Kniebeugen macht. Cheerleader feuern sie unterdessen an. Der Times-Zeitungskritiker urteilt: »›One Song‹ bleibt als wilde, berauschende Studie der Absurdität im Gedächtnis.«
Wer nach solch kraftstrotzender Festivaleröffnung noch Reserven hat, kann danach am Dienstag feinsinnigen Sprachuntersuchungen nachgehen. In »Koulounisation« nimmt Salim Djaferi (Belgien) Kolonialerzählungen auseinander. Feingefühl und Selbstironie mischt er in dieser deutschen Erstaufführung mit der Drastik einstiger Herrschaftssprache.
Andere der 15 Produktionen aus neun Ländern schlagen höchst persönliche Töne an. So offenbart ein berührendes Requiem die Fragilität allen Lebens. Kein Geheimtipp mehr, aber trotzdem eine (persönliche) Empfehlung ist Manon Parent. Die französische Ausnahmetänzerin ist in einem nahegehenden Solo zu erleben. Zu sanften Klaviermelodien von Claude Debussy und Maurice Ravel verbindet sie in »Scarbo« Präzision mit Spontanität, Ästhetik und technischer Perfektion. Gewiss, es geht vielfach um Krieg und Frieden auf der diesjährigen Euro-Scene. Manchmal aber auch einfach um eine Feier der Schönheit. Nicht weniger, nicht mehr.
> Euro-Scene, 7.–12.11., verschiedene Orte, Eröffnung: »One Song«, 19.30 Uhr, Schauspielhaus, www.euro-scene.de