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Stadtleben

Städtische Amnesie

Wie eine Gedenktafel für den ehemaligen Thomaskantor Günther Ramin städtische Lücken des Erinnerns aufzeigt – ein Kommentar

  Städtische Amnesie | Wie eine Gedenktafel für den ehemaligen Thomaskantor Günther Ramin städtische Lücken des Erinnerns aufzeigt – ein Kommentar  Foto: Britt Schlehahn

Am Montagmittag finden sich einige Menschen auf dem Bürgersteig an der Ferdinand-Lassalle-Straße 22 ein. Am Haus gegenüber des Clara-Zetkin-Parks wird wenige Minuten später ein weißes Tuch von einer Tafel am Gartenzaun abgenommen, die an den ehemaligen Thomaskantor Günther Ramin erinnert. Es ist der 6. November 2023, ziemlich genau 125 Jahre nach der Geburt Ramins, der im Haus mit der Nummer 22 ab September 1945 bis zu seinem Tod 1956 wohnte. Initiiert wurde das Gedenken von seiner Familie und der Stadt, die von der Leipziger Künstlerin Caroline Kober gestaltete Tafel ist mit kritischen Tönen zu Ramins Stellung in der Zeit von 1933–45 versehen. Diese knüpfen an die Ausstellung »Hakenkreuz und Notenschlüssel – Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus« im Stadtgeschichtlichen Museum an (siehe Titelgeschichte im kreuzer 8/2023).

Standesgemäß singen zur Einweihung der Tafel einige Mitglieder des Thomanerchors unter Leitung des Thomaskantors Andreas Reize. Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke (Linke) wählt ihre Worte mit Bedacht, denn Ramin wurde 1939 Thomaskantor und die Ehrung solle nicht die »Widersprüche« in seiner Biografie verschweigen. Weitere Forschung müsse die konkrete Zusammenarbeit Ramins mit den Nationalsozialisten noch »ausloten«. Jennicke betont aber, dass Ramin sich vor den Chor gestellt und Mitglieder vor der Einberufung zur Wehrmacht geschützt habe. Nach 1945 organisierte er die regelmäßigen Motetten, die Jennicke als »zentrales Ereignis in der Stadtgesellschaft« beschreibt.

Ramins Urenkel Johannes Lang, seit 2022 Thomasorganist, bezieht sich in seiner Ansprache zum Wirken Ramins dann auf Corinna Wörners Buch »Zwischen Anpassung und Resistenz. Der Thomanerchor in zwei politischen Systemen« (Georg Olms Verlagsbuchhandlung 2023). Ramin habe sehr wohl 1936 bei der Einweihung der Reichsparteitagsorgel auf dem Nürnberger NSDAP-Parteitag sowie ein Jahr vorher bei der Hochzeit von Hermann Göring Orgel gespielt – aber unter innerem Protest, wie seine Uroma Charlotte Ramin berichtete. Ab 1942 leitete Ramin das musische Gymnasium in der damaligen Bismarckstraße 22. Laut Lang war sein Uropa weder Nationalsozialist noch Widerstandskämpfer. Anschließend spricht Gertrud Ramin, Langs Tante und Ramins Enkelin, von ihren Erinnerungen an das Haus mit dem Musikzimmer und den zwei Flügeln und reicht Fotografien rum.

Eine runde Sache – könnte man meinen. Wenn nicht seit Sommer ein Konzept zur Erinnerungskultur als Arbeitsgrundlage für die Stadt vorliegen würde, das kommende Woche vom Stadtrat verabschiedet werden soll und sich gegen eine einseitige Geschichtsaufarbeitung stellt.

Das städtische Konzept zur Erinnerungskultur

Dieses Konzept wurde im Juni von der Dienstberatung des Oberbürgermeisters bestätigt. Zuvor gab es Workshops dazu mit städtischen Einrichtungen wie auch mit zahlreichen Initiativen und Vereinen, die sich seit Jahren für eine lebendige und kritische Aufarbeitung der Stadtgeschichte engagieren.

»Leipzig ist eine weltoffene Stadt, die in besonderer Weise von und mit ihrer Geschichte lebt und daraus Gestaltungsimpulse für Gegenwart und Zukunft ableitet«, heißt es in dem Konzept sowie schon zu Beginn: »Dabei richtet sich dieses (neue) Interesse, besonders auf die kritische Auseinandersetzung mit Kontroversen und entweder lange ›verdrängten‹ oder in der Öffentlichkeit nicht wenig präsenten erinnerungskulturellen Themen«. Zu diesen Themen zählen unter anderem die NS-Herrschaft und Zwangsarbeit. Punkt 4.2 benennt zudem »Neue Perspektiven für etablierte Schwerpunktthemen«, darunter jüdische Geschichte (epochenübergreifend). Bisher beschränkt sich die Erinnerung häufig auf das Holocaust-Gedenken, wird selten an Jüdinnen und Juden als historische Akteurinnen und Akteure innerhalb der Stadtgesellschaft vor 1933 gedacht. Mit dem neuen Konzept soll die Kultur- und Kunstgeschichte Leipzigs auch aus jüdischer Perspektive beschrieben werden können.

Die Amnesie im städtischen Gedenken

Genau das passiert mit der Tafel und deren Einweihung in der Ferdinand-Lassalle-Straße 22 aber nicht. Dass Ramin hier ab September 1945 lebte), nachdem seine vorherige Wohnung in der Hiller-straße 2 zerbombt wurde, ist auf der Einweihungsfeier wiederholt zu hören. Aber über die Geschich-te des Hauses jenseits von Ramins Erscheinung fehlt jedes Wort – sowohl in den Reden als auch auf der Tafel.

Ursprünglich wurde das Haus, das heute wieder seinen ursprünglichen Namen – Villa Najork – trägt, vom Chromo-Papierfabrikanten Gustav Najork 1881/82 nach den Plänen des Dresdner Architekten Adam Mirus gebaut. Seit 1923 gehörte es laut Adressbuch Raphael Chamizer, einem Arzt und Bild-hauer, der am 10. Mai 1882 in Leipzig geboren wurde und 1957 in Tel Aviv starb. Er war der Sohn von Moritz Chamizer und eröffnete 1908 seine erste Praxis. Er heiratete 1910 Ella Hardassah Schwarz aus Eberswalde, 1913 und 1916 wurden die Söhne Immanuel und Gidion geboren. Chamizer engagierte sich unter anderem im Zionistischen Verein Leipzig.

Chamize  ließ die Villa umbauen, da er Platz für sein bildhauerisches Schaffen benötigte, dem er seit 1922 nachging. 1927 waren im Museum der bildenden Künste in einer Ausstellung Arbeiten von ihm zu sehen – unter anderem die Skulptur »Trauer«, die nach 1945 auf dem Neuen Israelitischen Friedhof am Ort der am 9. November 1938 zerstörten Trauerhalle stand.

1931 erfolgte der Umzug in das Atelier von Max Klinger in der Karl-Heine-Straße 6 (im Krieg zerstört, heute Gelände der Neuapostolischen Gemeinde). 1935 verlor Chamizer seine Kassenzulassung und wanderte 1938 von seinem Ferienhaus in der Schweiz nach Palästina, nach Tel Aviv, aus.

Andrea Lorz beschreibt Chamizers Leben und künstlerisches Werk – unter anderem auch auf dem Gebiet der Buchgestaltung – in ihrem Band »Damit sie nicht vergessen werden! Eine Spurensuche zum Leben und Wirken jüdischer Ärzte in Leipzig« (Passage-Verlag 2017). Das Stadtgeschichtliche Museum zeigte 2019 anlässlich der Jüdischen Woche die Ausstellung »L’dor v’dor. Von Generation zu Generation. Familie Chamizer aus Leipzig«.

Nach Chamizer kaufte der Bankier Hans Kroch die Villa, die er 1935 abbrechen lassen wollte, um zwischen Sebastian-Bach- und der damaligen Bismarckstraße fünf dreigeschossige Wohnhäuser nach den Plänen der Leipziger Architekten Johannes Koppe und Otto Hellriegel errichten zu lassen, wie Wolfgang Hocquel in den Leipziger Blättern 71/2017 zur Baugeschichte der Villa ausführt. Die Krochs wohnten in der Sebastian-Bach-Straße 53. Vor dem heutigen Altersheim ebenda befindet sich ein Stolperstein für Krochs Ehefrau Ella, die unter anderem die Aktion im polnischen Konsulat in der Wächterstraße unterstützte, um Jüdinnen und Juden zu helfen, die am 27. Oktober 1938 nach Polen ausgewiesen werden sollten. 

Hans Kroch wurde im Zuge der Sonderaktion zur Pogromnacht 1938 verhaftet und in das KZ Buchenwald, dann nach Sachsenhausen verschleppt. Entlassen wurde er nach seiner Verzichtserklärung auf das Gesellschaftsvermögen des Bankhauses im Namen der gesamten Familie. Die Bank ging an die Industrie- und Handelsbank über. Kroch floh mit den Kindern nach Amsterdam. Ella Kroch blieb zunächst in Leipzig, um die Flucht zu verschleiern. Als sie dann aus Deutschland flüchtete, wurde sie aufgegriffen. Nach ihrer Inhaftierung im Leipziger Polizeigefängnis wurde sie 1940 ins KZ Ravensbrück deportiert und 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg umgebracht.

Das Haus in der Bismarckstraße 22 ging nach der Flucht und dem Verzicht der Familie Kroch im Rahmen der sogenannten Arisierung in städtischen Besitz über. Ebenjenes Musische Gymnasium wurde eingerichtet, das Günther Ramin ab 1942 leitete. Der Ort am Clara-Zetkin-Park ist also wahrlich nicht nur mit dem Leben des ehemaligen Thomaskantors verbunden. Dass die Stadt die anderen Menschen, die mit diesem Haus verbunden waren, im öffentlichen Gedenken nun übergeht, ist mindestens erstaunlich. Am unzugänglichen Wissen kann es nicht gelegen haben – vielleicht aber am fehlenden Interesse oder gar an der eigenen Ignoranz?

Es bleibt zu hoffen, dass die Stadtverwaltung sich ihres eigenen Erinnerungskulturkonzepts bald selbst bewusst wird und nicht nur zu Gedenktagen an Jüdinnen und Juden sowie ihr Engagement in der und für die Stadtgesellschaft erinnert.


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1 Kommentar(e)

Leoni Peters 11.11.2023 | um 23:19 Uhr

Warum werden von der Stadt Anfragen des öffentlichen Erinnerns in diesem Fall an Familienangehörige unterstützt? Warum wird diese Tafel zu einer städtischen Erinnerungstafel und bleibt nicht ein privates Anliegen der Familie? Konservatives Bürgertum passt sich in den schwierige Zeiten gut an und schreibt sich danach glorreich in die öffentliche Erinnerung ein. Sensibilität und klare Positionen zu Erinnerungsinhalten wären der Stadt Leipzig zuzumuten, aber vor allem zeitgenössischere Formen der Erinnerung.