Wenn Chemnitz 2025 europäische Kulturhauptstadt sein wird, soll die sogenannte Makerszene einen Schwerpunkt bilden, jener interdisziplinäre Haufen, in dem gemeinsam an Do-it-yourself-Lösungen verschiedenster Probleme getüftelt wird. Als solcher lässt sich auch das Kunstfeld der Stadt beschreiben, die keine Kunsthochschule besaß oder besitzt, aber aus der jede Menge Künstlerinnen und Künstler stammen.
Um Autodidaktinnen und Autodidakten dreht sich nun auch die Ausstellung »Welche Moderne? In- und Outsider der Avantgarde«, die in Kooperation der Kunstsammlungen Chemnitz mit dem Sprengel-Museum Hannover entstand und bis Mitte Januar in den Kunstsammlungen am Theaterplatz zu sehen ist.
Sie stellt wichtige Vertreterinnen und Vertreter der naiven Kunst mit ihren Netzwerken und Beziehungen zu bekannten Akteurinnen und Akteuren der Moderne vor. Den Ausgangspunkt bildet die Ausstellung »Les Maîtres populaires de la réalité« von 1937, die parallel zur Weltausstellung in Paris stattfand. Sie gilt als erste umfassende Schau zur naiven Kunst im Nachbarland. Zu sehen waren unter anderem Werke von André Bauchant, Camille Bombois, Adolf Dietrich, Séraphine Louis, Henri Rousseau und Louis Vivin. Danach machte die Ausstellung im Kunsthaus Zürich und im Museum of Modern Art in New York Station, um die naive Kunst als dritte Wurzel der Moderne nach Kubismus und Abstraktion sowie Dada und Surrealismus aufzuzeigen.
In Chemnitz können nun die in den vergangenen Jahrzehnten vergessenen Künstlerinnen und Künstler sowie die Unvergessenen samt ihren Vermittlern wiederentdeckt werden.
Da wäre der Steuerbeamte Henri Rousseau, der in Publikationen vom deutschen Kunsthändler Wilhelm Uhde den Stempel des einsam Arbeitenden aufgeholfen bekam, um mittels Legendenbildung das Interesse an seinen Werken zu erwecken. Rousseau wird in Chemnitz nun mit Werken von Max Beckmann, aber auch Felix Nussbaum oder Edith Dettmann in Verbindung gebracht, so dass weitere Entdeckungen garantiert sind.
Séraphine Louis, die zuvor als Dienstmädchen arbeitete, wurde ebenfalls von Wilhelm Uhde entdeckt, der sie zu den »fünf primitiven Meistern« zählte. Ihre Blumenbilder treten in Kontakt zu Marc Chagalls »Die Levkojen« aus dem Jahr 1949. Zu dem Zeitpunkt war die Künstlerin bereits verstorben. Aufgrund einer psychischen Erkrankung lebte sie seit 1932 in einer Nervenheilanstalt. Unter der deutschen Besatzung verhungerte sie dort 1942.
Dass die Kunstschaffenden keineswegs allein vor sich hin werkelten, zeigt die Ausstellung ebenso, wie sie die verschiedenen künstlerischen Positionen in den damaligen zeitgenössischen Netzwerken verortet. Ein Raum widmet sich Adalbert Trillhaase, einem Immobilienbesitzer und Maler, der in Düsseldorf im engen Kontakt zur Szene des Jungen Rheinlands lebte und arbeitete.
Otto Dix porträtierte »Die Familie des Malers Adalbert Trillhaase« 1923, indem er Trillhaases Malstil überspitzt in Szene setzte. In Vitrinen wird zudem an Johanna Ey erinnert, eine wichtige Akteurin im Düsseldorfer Kunsthandel und -kreis.
Das Bild »Hermelin und tote Möwe in Mondscheinlandschaft« von Adolf Dietrich, der malte und als Holzfäller arbeitete, aus dem Jahr 1908, das eine kopfüber hängende Möwe zeigt, für die das Bildmaß fast zu klein scheint, hängt neben René Magrittes »Das Vergnügen« aus dem Jahr 1927. Hierbei beißt eine Frau offensichtlich recht herzhaft in den Vogel, den sie zwischen ihren Fingern hält, dessen Blut ihr Kleid und die Finger bedeckt. Dietrich malte nicht nur, sondern fotografierte auch die ihn umgebende Landschaft. Eine Auswahl zeigt die Ausstellung und verweist dabei auch auf den Einfluss des technischen Abbildes auf die Malerei.
Camille Bombois trat als Ringer und Gewichtheber auf Jahrmärkten auf – und malte. Als er im Ersten Weltkrieg ins Feld zog, verkaufte seine Frau die Bilder auf dem Flohmarkt, um das Überleben zu sichern. Nach dem Krieg fanden sich seine Werke in Privatsammlungen und er war vor 1933 in der Berliner Nationalgalerie vertreten. Seine Körperdarstellungen treten mit denen von Fernand Léger in Chemnitz auf.
Der Gärtner André Bauchant, der neben Blumen vor allem schroffe Berglandschaften malte, findet sich hier neben Max Ernst (»Die faszinierende Zypresse«).
Die Ausstellung in Chemnitz führt so ein vergessenes Kapitel des Kunstgeschehens vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aus neuen Perspektiven zusammen und zeigt, dass es viele Akteurinnen und Akteure gab, die die Moderne prägten.
>»Welche Moderne? In- und Outsider der Avantgarde«: bis 14.1., Kunstsammlungen Chemnitz
> Kuratorinnenführung mit Sabine Maria Schmidt: 6.12., 18.30 Uhr, öffentliche Führungen: So 14.30 Uhr
> Katalog »Welche Moderne? In- und Outsider der Avantgarde«. Berlin: Distanz 2023. 200 S., 40 €