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Vom Hirschgehege zum Kaninchenstall

Der Stadtraum in Leipzig wird immer dichter – wir machen einen kleinen Stadtrundgang im Dickicht

  Vom Hirschgehege zum Kaninchenstall | Der Stadtraum in Leipzig wird immer dichter – wir machen einen kleinen Stadtrundgang im Dickicht  Foto: Marc Schorter

Leipzig hat sich in den letzten Jahren stark verändert. In vielen Stadtteilen wurden Baulücken geschlossen, sind neue Gebäude entstanden, wo es gerade noch Grünflächen gab. Alte Industriegebäude wurden zu Wohnräumen umgebaut und um weitere Neubauten ergänzt, die gefühlten Freiräume verschwinden. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch eine rasche Zunahme der Bevölkerung um 20 Prozent innerhalb von nur zehn Jahren.

Dass ein solches Bevölkerungswachstum nicht spurlos an einer Stadt vorübergeht, liegt auf der Hand. Und in Leipzig war es zudem lange Zeit in die entgegengesetzte Richtung gegangen: In den neunziger Jahren gingen die Einwohnerzahlen massiv zurück – innerhalb von zehn Jahren um 10 Prozent. Die einen zogen der Arbeit hinterher nach Westen, andere verwirklichten den Traum vom Eigenheim in einem der neu ausgewiesenen Baugebiete in umliegenden Gemeinden. Die Folge: Flächenfraß ebendort und eine leergezogene Stadt hier mit nur noch 437.000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 1998.
 

Die schrumpfende Stadt

Die Bevölkerungsprognosen sahen in dieser Zeit auch langfristig nicht gut aus, Leipzig war eine schrumpfende Stadt, die sich fragen musste: Welche Schul- und Kita-Kapazitäten werden künftig überhaupt noch benötigt? Wie lassen sich große Infrastrukturnetze in einer schrumpfenden Stadt wirtschaftlich betreiben? Wie lassen sich brach liegende Flächen, für die sich kein Investor findet, in eine Entwicklung integrieren? Wie lässt sich der Verfall der Bausubstanz und damit der Verfall der Stadtstruktur bei geringer werdenden finanziellen Mitteln aufhalten?

Um diese Fragen beantworten und die Entwicklung steuern zu können, entstanden 2002 und 2004 konzeptionelle Stadtteilpläne, insbesondere für die stark von Leerstand betroffenen Stadtteile im Leipziger Osten und Westen. Der für den Osten schlug beispielsweise vor, sich auf bestimmte Kernbereiche der baulichen Entwicklung zurückzuziehen und die frei werdenden Flächen durch eine positiv besetzte Freiraumentwicklung zu gestalten. Der »Dunkle Wald« und der »Lichte Hain« an der Wurzner Straße wurden als Teil des grünen Rietzschke-Bandes in der Folge umgesetzt. Das »Hirschgehege«, eine circa vier Hektar große Fläche um das Krystallpalast-Areal östlich des Hauptbahnhofs, für fünf Hirsche einzuzäunen, blieb hingegen provokante Utopie.


Die boomende Stadt

Diese Zeit des Überangebots an Immobilien bot viel Potenzial. Wohnraum war preiswert, unsanierte Wohn- und Industriegebäude boten Raum für Kunst und Subkultur. Viele Initiativen – wie die Wächterhausinitiative, die Vorbild für andere Kommunen wurde – wirkten dem Verfall von Bestandsgebäuden entgegen, für den Neubau entstand der neue Gebäudetyp des »Stadthauses«: ein mehrgeschossiges schmales Einfamilienhaus, das in Gruppen Baulücken innerstädtischer Straßenzüge schließt. Damit schuf man für Familien ein Angebot als Alternative zum Umland und konnte gleichzeitig Stadtreparatur betreiben. In Plagwitz entwickelte sich eine lebendige kulturelle Szene in alten Industriegebäuden und Wohnhäusern, ein Start-up-Zentrum und Firmen wie Spreadshirt oder Taschenkaufhaus siedelten sich an.

Nach einer Erholungsphase in den frühen 2000er Jahren, in der durch Eingemeindungen und erste Zuzüge die Bevölkerung wieder auf über 500.000 Menschen anwuchs, kam es um das Jahr 2010 zur Trendumkehr: In den folgenden zehn Jahren wuchs Leipzig um satte 20 Prozent auf über 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner an. Die Stadt wurde dabei Opfer ihres eigenen Erfolgs. Denn durch bezahlbaren Wohnraum in einer von Kultur, Bildung und Grün geprägten Stadt und durch freie kreative Entwicklungsräume wurde Leipzig für den Zuzug sehr attraktiv. Durch den Ausbau der Infrastruktur und die Ansiedlung erster großer Unternehmen wie Porsche und BMW fing die Stadt auch als Wirtschaftsstandort wieder an zu prosperieren. Leipzig wurde zur Boomtown Deutschlands. Gebremst wird diese Entwicklung erst durch mittlerweile knapper werdenden Wohnraum, weil die Entwicklung neuer Bauflächen mit dem Zuzug nicht Schritt halten kann, wodurch die Mieten steigen und die Zuzüge sich auch wieder auf die Umlandgemeinden verteilen.

Nachvollziehen lässt sich die Änderung der Vorzeichen zum Beispiel an der Entwicklung am Lindenauer Hafen. Der Masterplan von 2011 sah (nach der gescheiterten Olympiabewerbung von 2004) für das Areal noch eine eher aufgelockerte Bebauung mit wenigen großen Blöcken und Stadthäusern vor. Heute stehen hier durchgängig dicht bis sehr dicht bebaute Mehrfamilienhausanlagen, ergänzt um eine zusätzliche Reihe auf der anderen Seite der Hafenstraße.

Auch am Kasernenviertel in Gohlis kann man die geänderte Entwicklung ablesen. Das Quartier Siebengrün, das erste Neubauquartier in dem Areal, ist noch locker mit Einfamilienhäusern bebaut. Die später realisierten Quartiere »Heeresbäckerei« und »König-Albert-Residenz« sind zum Teil sehr stark mit Mehrfamilienhäusern verdichtet. Aber auch das Gesamtgefüge des Kasernenviertels wirkt etwas zusammenhanglos, vielleicht weil man anfangs nicht an eine solch große Entwicklung geglaubt hatte.

Nicht einmal zwanzig Jahre später sind daher die Konzepte und Ideen der frühen 2000er längst überholt. Der bezahlbare Wohnraum und die lieb gewordenen Freiräume, die Leipzig so attraktiv gemacht haben, werden Mangelware, Grund und Boden zum Spekulationsobjekt. So hat sich der Bodenwert für eine Fläche benachbart an das Gohliser Kasernenviertel seit 2010 von 130 auf 1.000 Euro pro Quadratmeter fast versiebenfacht – klar, dass der Boden aus Bauherrensicht möglichst maximal ausgenutzt werden soll. Die Quartiere, die in den letzten Jahren entstanden, sind deshalb auch so hoch und so dicht bebaut. Das »Stadthaus« hat ausgedient, am Lindenauer Hafen ist nicht mal für gemeinschaftliche Hofanlagen noch Platz. Die schmalen Grünstreifen zwischen den Häusern sind gleichzeitig deren Zugang und besitzen keinerlei Aufenthaltscharakter. Das liegt auch daran, dass die Baufelder meist komplett von einer Tiefgarage unterbaut sind – auf dem Dach einer Tiefgarage können allenfalls sehr kleine Bäume wachsen. Oft stehen sie daher nur am Grundstücksrand und bieten weder Aufenthaltsqualität noch Beschattung, entsprechend verdorrt und wenig grün sind die Rasenflächen.


Die parkende Stadt

Dasselbe Bild auf dem Areal der ehemaligen Naumannschen Brauerei an der Zschocherschen Straße: kaum Bäume, kaum Schatten und verdorrte Rasenflächen. Stattdessen ragen überall Lüftungsschächte aus dem kargen Boden – auch hier sollen die Kinder auf dem Tiefgaragendach spielen. Das Auto ist allgegenwärtig, auch wenn es unter die Erde verbannt ist. Man gewinnt den Eindruck, dass die Mehrzahl der Bauprojekte der letzten zehn Jahre nicht für Menschen, sondern für Autos entworfen wurde. Fußwege sind im Kasernenviertel schmal und oft nur auf einer Straßenseite. Straßenbäume findet man nicht, dafür – trotz Tiefgaragen – Stellplätze entlang der Straßen.

Bei dichter Bebauung wächst auch der Flächenanteil, der zum Abstellen von Autos benötigt wird. Dabei geht es doch gerade beim innerstädtischen Bauen darum, den dort gut ausgebauten Nahverkehr zu nutzen. Mit der Novelle der Stellplatzsatzung hat die Stadt Ende 2019 zumindest dafür gesorgt, dass die geforderten Stellplätze nahezu halbiert wurden.

Bei den neuen Leipziger Terrassen zwischen Weißer Elster und Nonnenstraße ist der einzige gemeinschaftliche Freiraum die Parkplatzfläche zwischen den Gebäuden. Wer hier nicht in einem der Stadthäuser oder im Erdgeschoss der Mehrfamilienhäuser wohnt, geht leer aus. Das ist ohnehin ein gern verwendetes Motiv gerade bei Investorenhäusern: Die Freiflächen entlang des Erdgeschosses werden exklusiv den dahinterliegenden Wohnungen zugeordnet – denn so können sie zur Mietfläche dieser Wohnungen als Terrasse addiert werden, statt ertragslose Gemeinschaftsfläche zu sein. Gewinnmaximierung auch hier. Eine Hausgemeinschaft wird sich so kaum entwickeln.


Kein Anspruch unter dieser Nummer

Leider hat sich der gestalterische Anspruch an Gebäude nicht parallel zu den Grundstückspreisen entwickelt. Die wenigsten Investoren halten die Gebäude auch langfristig, die meisten sind eher an der Gewinnabschöpfung unmittelbar nach Realisierung der Vorhaben interessiert. So spielt es keine Rolle, wie die Kiste aussieht. Es reicht, wenn die Zahlen stimmen, denn bei knappem Wohnraum geht fast jede Bude weg.

Ganz anders gehen gemeinschaftliche Wohnprojekte mit ihren Grundstücken und Häusern um. Beispielsweise das mit dem Architekturpreis ausgezeichnete Holzhaus in Lindenau, das mit der besonderen Bauweise und der Gestaltqualität punktet. Oder das Our-Haus-Projekt am Lindenauer Hafen: Innerhalb der Mehrfamilienhäuser bildet es die bemerkenswerte Ausnahme. Seine Tiefgarage liegt nur unter dem Gebäude, der Garten ist nicht unterbaut. Im Erdgeschoss gibt es Gemeinschaftsräume, niemand hat einen exklusiven Außenbereich – dieser gehört der Gemeinschaft. Dafür prägt die Zonierung der Balkone und Erker die Hofseite des Hauses. Zu Recht wurde auch dieses Gebäude mit dem Architekturpreis der Stadt ausgezeichnet.

Gefördert werde solche Innovationen und Qualitäten, indem Grundstücke durch das Konzeptvergabeverfahren der Stadt Leipzig an Wohnprojekte gehen – wie das jüngst fertiggestellte Hausprojekt Klinge 10 in Plagwitz. Auch sind in den letzten Jahren einige gestalterisch herausragende städtische Schul- und Kita-Gebäude entstanden.


Bezahlbarer Wohn- und betretbarer Freiraum

Insgesamt ist die Nachverdichtung der Stadt durchaus positiv zu sehen. Eine dichtere Stadt bedeutet schließlich, dass zunächst gut erschlossene brach liegende Flächen in der Stadt entwickelt werden, bevor weitere Flächen außerhalb der Stadt dafür genutzt werden müssen. So können vorhandene Netze besser ausgenutzt und (Fahr-) Wege reduziert werden. Außerdem sind soziale und kulturelle Einrichtungen gut erreichbar. Wichtig ist dabei jedoch – gerade in Zeiten des Klimawandels – die richtige Balance zur Freiraum- und Grünentwicklung als Aufgabe der Stadtplanung. Die Mehrfachnutzung von Flächen kann dabei helfen: Überflutungsflächen in Parks und Freianlagen, begrünte Flachdächer mit Regenwasserspeicher und Solaranlagen, Nutzung der Verdunstungskälte von Bäumen zur Verbesserung des Lokalklimas, Wohnnutzungen über Kitas oder Pflegeheime über Supermärkten. Es müssen aber auch neue Grünflächen zur Erholung der wachsenden Bevölkerung entwickelt werden.

Die Stadt hat sich auf diese Entwicklungen eingestellt. So sollen »Pocketparks« wie im Löwitz-Quartier westlich des Hauptbahnhofs als Wasserspeicher, Überflutungsfläche, zum Pausenaufenthalt und zur Kühlung des Lokalklimas genutzt werden; Teile von Schulhöfen werden nachmittags und am Wochenende zugänglich gemacht.

Auch der Siegerentwurf für den Wettbewerb der kommenden Flächenerweiterung westlich des Kasernenviertels in Möckern verspricht eine Aufwertung des Gesamtareals: So ist eine großflächige Parkanlage mit dem vorhandenen Baumbestand als Herzstück des Quartiers ebenso geplant wie eine Quartiersgarage und Coworking-Räume.

Allen neuen Entwicklungen gemein ist jedoch, dass in Neubauwohnungen stets höhere Mieten gezahlt werden müssen. Aktuell wächst die Bevölkerung auch deshalb nicht mehr ganz so schnell wie in den letzten Jahren, weil das Angebot an Wohnungen allgemein und an bezahlbaren Wohnungen im Besonderen knapper wird. Der Wohnungsmarkt ist angespannt. Mit der Sozialwohnungsquote von 30 Prozent in neuen Bebauungsgebieten allein kann dieses Defizit langfristig nicht abgebaut werden, denn diese Sozialwohnungen dürfen meist nach 15 Jahren in »normale« umgewandelt werden. Um den sozialen Frieden zu wahren, braucht es langfristig eine tragbare Alternative. Denn bei einem anzunehmenden weiteren Wachstum darf nicht die angestammte Bevölkerung in die preiswerteren Umlandgemeinden verdrängt werden, weil Wohnraum in der Stadt nur noch für Gutverdiener bezahlbar ist.


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