Marco Böhme ist sauer, als er den kreuzer zurückruft. Er müsse gleich in eine Ausschusssitzung, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der Linken im Landtag, aber kurz habe er Zeit. Um über Campact zu reden. Der politische Verein ist gerade mit einer Kampagne zum strategischen Wählen bei der sächsischen Landtagswahl in die Öffentlichkeit gegangen. Campact ruft dazu auf, in vier Wahlkreisen jeweils zwei Kandidierenden der Grünen und zwei der Linken die Erststimme zu geben. In Böhmes Wahlkreis rät Campact zur Wahl seiner grünen Konkurrentin Claudia Maicher. Verliert Böhme den Kampf ums Direktmandat, wird es wohl eng für ihn mit dem Einzug ins Parlament: Der 34-Jährige steht nur auf Platz acht der Linken-Landesliste, Maicher immerhin auf Platz fünf bei den Grünen.
Es brauche keinen westdeutschen Verein, der den Menschen vor Ort erklärt, wie sie zu wählen hätten, sagt Böhme am Telefon. »Wir halten es für keine kluge Strategie, dass zivilgesellschaftliche Akteure, die nicht vor Ort verankert oder aktiv sind, den Menschen im Osten Wahlempfehlungen erteilen«, schreibt der Leipziger Kreisverband der Linken in einer Pressemitteilung. Diese Kritik fliegt Campact in den Tagen und Wochen darauf noch öfter um die Ohren. Neben der Frage, ob konkrete Wahlaufrufe zielführend sind, stellt sich aber noch eine weitere: Wie eng rücken progressive Parteien im Wahlkampf zusammen, um der AfD im nächsten Landtag möglichst wenig Handlungsspielraum zu geben?
Sorge vor der Sperrminorität
Felix Kolb macht seine Schreibtischlampe an, damit man ihn im Zoom-Call erkennt. Eine Woche nach Veröffentlichung der Kampagne ist der Campact-Geschäftsführer noch immer irritiert über Teile der Kritik, denen er und sein Team sich in den letzten Tagen ausgesetzt sahen. Den Vorwurf des westdeutschen Paternalismus bezeichnet Kolb als »Nebelkerzen-Werfen«. Die Idee zur Kampagne sei erst durch Hinweise von Campact-Unterstützenden geboren worden: »Menschen, die sich gut in der sächsischen Politik auskennen, haben sich bei uns gemeldet und gesagt: Hey, habt ihr eigentlich auf dem Schirm, dass womöglich die Linken, vielleicht aber auch die Grünen aus dem Landtag fliegen könnten? Und übrigens, es gibt in Sachsen die sogenannte Grundmandatsklausel.«
Diese besagt, dass eine Partei, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, auch dann in den sächsischen Landtag einzieht, wenn sie mindestens zwei Wahlkreise gewinnt. Für Grüne, Linke und SPD könnte das entscheidend werden – wobei die Sozialdemokraten in Sachsen keine Aussicht auf ein Direktmandat haben: Die neusten Wahlumfragen der Forschungsgruppe Wahlen und dem Meinungsforschungsinstitut Insa sehen alle drei Parteien bei Werten um die fünf Prozent. Die Anzahl der Parteien, die es am Ende in den Landtag schaffen, könnte den Handlungsspielraum der AfD bestimmen. Scheitern Parteien knapp an den fünf Prozent, verfallen ihre Stimmen. Die Sitze im Parlament, die unbesetzt blieben, werden auf die Parteien verteilt, die den Einzug tatsächlich schafften – proportional zu deren Wahlergebnis. Bekäme die AfD mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag, besäße sie eine sogenannte Sperrminorität. Entscheidungen, die mit zwei Drittel aller Stimmen beschlossen werden müssen, könnte die AfD somit blockieren. Das betrifft Entscheidungen zu Verfassungsänderungen, aber auch die Ernennung von Verfassungsrichterinnen und -richtern.
»Progressive Kräfte werden gegeneinander ausgespielt«
Laut Felix Kolb sei die beste Chance, dieses Szenario zu verhindern, die von Campact initiierte Erststimmenkampagne. In vier Wahlkreisen in Sachsen hätten Grüne und Linke reelle Chancen, das Direktmandat zu gewinnen. In diesen konkurrieren sie allerdings vor allem miteinander. »Dass es vier sichere Wahlkreise gibt und dass nicht klar ist, ob die Verteilung automatisch Zwei zu Zwei aufgeht, das war unumstritten«, berichtet Kolb aus den Gesprächen mit den Landesspitzen beider Parteien. »Ich habe dann auch gesagt: Macht ihr doch am besten selbst die Absprachen. Aber da war auch klar, dass der Zug abgefahren ist.« Also sprach Campact eigenständig Wahlempfehlungen aus, für Juliane Nagel im Leipziger Süden und Thomas Löser in der Dresdner Neustadt – die in ihren Wahlkreisen relativ unumstritten sind – sowie für Claudia Maicher im Leipziger Westen und Nam Duy Nguyen im Zentrum-Ost.
Claudia Maicher sitzt an einem heißen Augusttag im Garten ihres Abgeordnetenbüros in Lindenau und trinkt eine Limo. Maicher gewann hier 2019 das Direktmandat, so wie ihre Parteikollegin Christin Melcher im Zentrum-Ost. »Prinzipiell finde ich es richtig, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen einmischen, wenn sie sich Sorgen um die Demokratie machen«, sagt Maicher. »Trotzdem sehe ich es kritisch, dass progressive Kräfte ein stückweit gegeneinander ausgespielt werden.« Für Maicher und Melcher sei immer selbstverständlich gewesen, dass sie ihre Direktmandate verteidigen wollen.
»Parteien tun sich schwer, taktische Vorteile aufzugeben«
Ob es jemals Überlegungen zwischen Linken und Grünen gegeben habe, die Leipziger Wahlkreise untereinander aufzuteilen – etwa indem zwei Kandidierende pro Partei darauf verzichten, in ihrem Wahlkreis anzutreten? »Soweit ich weiß, und diese Absprachen müssen ja auf Parteiebene stattfinden, gab es in dieser Form diese Abstimmungen nicht«, sagt Maicher. »Das klingt theoretisch aber auch immer so, als könne man Wählerinnen und Wähler durch so eine Absprache automatisch dazu bringen, eine andere Partei zu wählen. Ich glaube, das funktioniert nicht unbedingt, weil es natürlich auch unterschiedliche Positionen zwischen Linken und Grünen gibt.«
Überrascht ist Campact-Geschäftsführer Kolb davon nicht. »Alle demokratischen Parteien sind sich sehr einig darüber, welche Gefahr die AfD für unsere Demokratie darstellt«, sagt Kolb. »Aber auf Basis dieser Einsicht eigene kleine taktische Vorteile aufzugeben, damit tun sich Parteien sehr schwer.«
Dass Absprachen bei Wählerinnen und Wählern aber auch kritisch gesehen werden könnten, weiß Politikwissenschaftler Maximilian Kreter, der an der TU Dresden unter anderem zum Wahlverhalten forscht. »Mit Blick auf die Erfahrung der Blockparteien in der DDR könnte es in Ostdeutschland vor dem Hintergrund des geschichtsrevisionistischen Narrativs der ›DDR 2.0‹ bei einigen Wählerinnen und Wähler den Anschein erwecken, Geschichte würde sich wiederholen.« Vor allem im Wählerklientel der Linken, die sich ohnehin mit dem Erstarken des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in einem politischen Überlebenskampf befinde, könnte diese Assoziation für weiteren Stimmenverlust sorgen.
Grüne und Linke in direkter Konkurrenz in Leipzig
Dennoch gibt es zahlreiche Beispiele für Absprachen zwischen Parteien, etwa bei Landratswahlen oder denen von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in Ostdeutschland, um Amtsträger der AfD zu verhindern. Oder zuletzt auch bei den Parlamentswahlen in Frankreich im Juli, bei denen Absprachen zwischen Linken und Liberalen einen Erdrutschsieg des extrem rechten Rassemblement National verhinderten. »Aber ich würde auch mal grundsätzlich in Frage stellen, dass die Parteien jeweils sagen: Es ist sinnvoll, wenn die andere Partei ins Parlament einzieht. Denn das geht immer auf Kosten der eigenen Stimmen beziehungsweise Mandate. So viel gesunden Egoismus sollte man den Parteien schon zugestehen«, sagt Kreter.
Hinzu kommt ein ohnehin angespanntes Verhältnis zwischen Linken und Grünen in Leipzig, das schon aus unterschiedlichem Rollenverständnis erwächst: Die Grünen wollen wieder Teil der Landesregierung werden, die Linke weiter parlamentarische Opposition bleiben. Beim Wahlkampfauftakt erkor die Linke die Grünen angesichts des Konkurrenzkampfes um die Leipziger Direktmandate als Hauptgegner. Die Grünen wussten zu antworten: Auf Instagram verglich die Leipziger Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta den Haustürwahlkampf von Nam Duy Nguyen, dessen Nähe zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) sie kritisiert, mit einem »Enkeltrick«, sein Wahlkampfteam agiere teilweise »wie eine kleine Sekte«.
Als Reaktion auf die Campact-Kampagne veröffentlichte Claudia Maicher einen Instagrampost, in dem sie Stimmen für die Linke als »verschenkt« bezeichnet, weil die CDU mehrfach ausgeschlossen habe, mit der Partei zu koalieren. Gegenüber dem kreuzer betont Maicher, es sei ihr dabei vor allem darum gegangen zu zeigen, dass nur die Grünen als progressive Kraft in eine Regierung kommen könnten. Grundsätzlich sei es immer gut, wenn möglichst viele progressive Parteien in den Landtag einzögen, auch in die Opposition.
Wissenschaftler ist skeptisch hinsichtlich Aufrufen zum strategischen Wählen
Einig sind sich Linke und Grüne nur darüber, dass die CDU mit ihrer Erzählung nicht durchkommen dürfe, die einzige Kraft zu sein, die die AfD in Zaum halten könne, womit die Christdemokraten auch Stimmen über das konservative Lager hinaus gewinnen wollen. Linke und Grüne hatten daher versucht, in den Gesprächen mit Campact auf eine gemeinsame Zweitstimmenkampagne hinzuwirken. Die wird es nun geben, allerdings nur ergänzend zur Erststimmenkampagne. »Wir als Campact wissen, dass unser Einfluss sehr begrenzt ist«, sagt Felix Kolb. »Wenn wir eine Kampagne machen, dann reden wir über ein paar Hundert oder Tausend Menschen, die wir mit unseren Ressourcen erreichen können. Bezogen auf einzelne Wahlkreise ist das richtig viel, die können den Unterschied machen. Die Anteile der Zweitstimmen können wir damit aber nicht wirklich beeinflussen.«
Politikwissenschaftler Kreter ist skeptisch hinsichtlich der Wirksamkeit von Aufrufen zum strategischen Wählen. »Der Anteil der Menschen, die bis zum Wahltag nicht wissen, was sie wählen, der variiert je nach Wahl zwischen 25 und 50 Prozent. Ganz ohne Effekt werden solche Aufrufe nicht bleiben, aber einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, den man in Zahlen bemessen kann, wird man eher nicht finden«, sagt Kreter.
32.000 Menschen erreicht Campact in den vier betroffenen Wahlkreisen per Newsletter, außerdem schaltet der Verein Werbung in den sozialen Medien und will per Postwurfsendung auf seine Kampagne aufmerksam machen. Die 25.000 Euro Wahlkampfspende, die jedem der vier Kandidierenden angeboten wurde, hat nur Nam Duy Nguyen angenommen. Darüber sei Marco Böhme nicht glücklich. Er hätte eine einheitliche Ablehnung besser gefunden. »Aber Nam ist kein amtierender Abgeordneter und weniger bekannt, deshalb kann ich die Nöte verstehen. Vielleicht hilft die Spende für einen faireren Wahlkampf.«