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Kultur

»Was Grausamkeit anrichtet«

Philosoph Dietrich Schotte über einen vagen Begriff

  »Was Grausamkeit anrichtet« | Philosoph Dietrich Schotte über einen vagen Begriff  Foto: Christiane Grundlach

Dietrich Schotte hat über Gewalt promoviert und jüngst historische Texte zur Grausamkeit versammelt. Warum, erklärt der Leipziger Philosoph im Gespräch.

Was fasziniert Sie an Grausamkeit?

Philosophie hinterfragt vermeintlich Selbstverständliches. Grausamkeit wird in der Literatur so gebraucht, als ob man schon weiß, was der Begriff bedeutet – wie wir es im Alltag tun. Legt man die Texte nebeneinander, sieht man aber, dass es so klar nicht ist. Erstaunlich, denn von Grausamkeit werden häufig Überzeugungen abgeleitet, Moralisches oder auch Staatswesen in Abgrenzung zu ihr definiert.

Das Wort hat Suggestivkraft?

Es verfügt über einen stark appellativen Charakter. Will man Menschen schlecht zeichnen, lässt man sie Tiere quälen oder jemanden foltern. Das ist als erzählerisches Mittel ein Marker – auch in Philosophie und Rechtswissenschaft. Dass sich Folter nicht gehört, ist seit der Aufklärung klar. Aber was fällt darunter? Es ging damals nicht ums öffentliche Strafen, sondern nur um Folter als Mittel der Wahrheitsfindung. Ab dem 17. Jahrhundert wird diese Funktion in Frage gestellt, weil unter Folter jeder alles gesteht, so das Argument. Verschiebt man die Parameter, trägt das Argument nicht mehr. Denken Sie an den Fall Jakob von Metzler, wo der Polizeipräsident die Gewaltandrohung an den Entführer befahl.

Folter hätte hier der Wahrheitsfindung dienen können?

Möglich, man sieht jedenfalls, dass das damalige Verbot nicht so eindeutig ist. Und schauen wir uns Isolationshaft und andere legale Praktiken an, muss man fragen, ob das nicht auch unter Folter fallen müsste.

In der Antike war Folter nicht des Leids anderer wegen verpönt?

Definiert man Grausamkeit als »unverhältnismäßiges Zufügen oder Zulassen von Leid«, würde uns Aristoteles zustimmen. Jedoch war Grausamkeit bis ins Mittelalter vor allem ein Problem, weil es ein Sich-Hingeben an die Leidenschaften bedeutete. Den Grausamen regiert der Zorn, nicht die Vernunft. Heute geht es darum, was Grausamkeit anrichtet.

Grausam sind immer die anderen?

Wir stellen uns den Sadisten in einem siffigen Keller vor. Wir wollen Existenz von Grausamkeit bei uns nicht sehen. Wer grausam ist, gehört nicht dazu, ist böse, krank, gestört. Wenn wir uns einreden, dass das Monstren und Bestien sind, kann unser eigenes Tun niemals grausam sein. Wir verfolgen ja legitime Zwecke, auch bei bestimmten Polizeipraktiken.

Etwa Schmerzgriffe?

Die sind gefährlich, aber folgen einer Logik. Wenn ich junge Menschen abhalten wollte, weiter auf Demos mitzulaufen, wäre es zweckrational, sie in Unterwäsche in einer Zelle frieren zu lassen. Natürlich wäre das demütigend und grausam. Wir müssten viele unserer Praktiken überprüfen, wenn der Begriff Grausamkeit nicht immer auch etwas ausblenden würde.

INTERVIEW: TOBIAS PRÜWER
 

> Dietrich Schotte: Grausamkeit – philosophische Positionen von der Antike bis in die Gegenwart. Darmstadt: WBG 2023. 258 S., 48 € u. kostenlos als E-book: www.wbg-wissenverbindet.de


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