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Stadtleben

»Ich bin großer Fan von weiblicher Doppelspitze«

Von der Austauschschülerin in Amsterdam zur Gastland-Kuratorin: Bettina Baltschev im großen Interview

  »Ich bin großer Fan von weiblicher Doppelspitze« | Von der Austauschschülerin in Amsterdam zur Gastland-Kuratorin: Bettina Baltschev im großen Interview  Foto: Christiane Gundlach

Herkunft, Ausbildung, Karriere, Veröffentlichungen – alles schön und gut, aber nichts ist so beiläufig beeindruckend wie zwei Wohnorte im Wikipedia-Eintrag oder Buchklappentext, für Fortgeschrittene: nicht nur eine Stadt und ein Landsitz, sondern dazwischen eine Landesgrenze. »Bettina Baltschev lebt in Leipzig und in Amsterdam« – check. Wir sprachen mit der Co-Kuratorin des diesjährigen Gastland-Auftritts zur Leipziger Buchmesse über ihre Arbeit und die Niederlande.

Frau Baltschev, besitzen Sie ein Paar Klompen?

Nein.

 

Gut, lassen wir das. Sie leben in Leipzig und Amsterdam, sind gerade Co-Kuratorin des Gastland-Auftritts zur Buchmesse. Wie fing das an mit Ihnen und den Niederlanden?

Das liegt schon lange zurück – im Frühjahr 1990. Ich war in der zehnten Klasse in Erfurt. Eines Tages hörte ich im Radio ein Interview mit jemandem von Youth for Understanding, einer alteingesessenen Austauschorganisation aus Hamburg, und da hieß es: Jetzt ist die Mauer gefallen und wir möchten gern jungen Menschen aus der DDR Stipendien zur Verfügung stellen, damit die mitfahren können. – Ich habe mich gemeldet, weil ich dachte, es handelt sich um ein paar Wochen im Sommer, in Frankreich oder so. Ja, und dann stellte sich raus: Es ging um ein ganzes Schuljahr. Meine Mutter hat mich ermutigt, also habe ich mich beworben – schon relativ spät im Prozess und na ja, die populären Länder waren schon weg. Natürlich wollten alle nach England, Frankreich oder Spanien. Übrig waren noch Dänemark, Belgien und die Niederlande, über die ich fast nichts wusste. Aber ich hatte eine Schallplatte von Herman van Veen – also machte ich mein Kreuzchen bei Holland und bin als einzige von den damals hundert Austausch-Schülerinnen und -Schülern in den Niederlanden in Amsterdam gelandet.

 

… hätte schlimmer kommen können.

Ja! Meine späteren Gasteltern hatten vorher bei der Organisation angemeldet, jemanden von sehr weit weg aufnehmen zu wollen, Japan oder Australien. Als sie dann aber hörten, dass da jemand aus der DDR kommen könnte, haben sie gesagt: Das ist ja gefühlt noch viel weiter weg als Japan! – Ich war dann für ein Schuljahr da und wir haben heute noch Kontakt.

 

Klingt, als ob Sie schon da richtig in Ihrem heutigen Spezialgebiet angekommen waren.

Ich hatte sehr großes Glück mit meiner Familie. Wir reden ja von einem Zeitalter ohne Internet und Handy – ich war also wirklich dort, anders als viele Jugendliche heute: Die sind zwar im Ausland, aber im Kopf und mit ihrem Handy eigentlich weiter zu Hause bei ihren Freunden. Das war bei mir anders. Ich habe zwar meine Mutter einmal im Monat angerufen und viele echte Briefe an meine Freunde geschrieben – aber ich war richtig weg. Und habe dadurch auch relativ schnell Holländisch gelernt, weil es halt alle um mich herum gesprochen haben.

 

Wie haben Sie die ja nicht gänzlich uninteressante Zeit 1990/91 in der Ferne wahrgenommen?

Ich bin eine Woche vor der Währungsunion nach Holland gefahren, da war die erste Euphorie ja schon durch, alles wurde schon schwieriger. Dadurch, dass ich in der Zeit nicht hier war, habe ich mir, glaube ich, ein paar Enttäuschungen erspart. Und ich sage auch immer: Ich habe in dem Jahr in Holland als sehr junger Mensch erlebt, wie soziale Marktwirtschaft funktionieren kann, wenn sie denn mal da ist. Ich habe quasi in die Zukunft geguckt. Die Wiedervereinigung am 3. Oktober habe ich in Amsterdam vor dem Fernseher verbracht und dabei geweint, nicht weil ich traurig war, sondern weil mich dieser historische Moment doch irgendwie überwältigt hat. Ich wurde dann zu einer holländischen Kindersendung eingeladen, wo ich die deutsche Einheit erklären sollte. Da gab es hinterher ein Kindertelefon und die erste Frage, die ein kleiner Junge mir stellte, war: »Gibt es jetzt Krieg?«

 

Wie sehr spielte das ansonsten eine Rolle: Sie als Deutsche in den Niederlanden?

Ich wurde natürlich darauf angesprochen, wo ich herkomme, ob aus Ost- oder Westdeutschland. Wenn ich sagte: »Ost«, hieß es: »Na, Gott sei Dank!« Die kleine DDR galt für viele Niederländer vor der Wende als das »sympathischere Deutschland«. Mir wurde auf dem Schulhof aber auch »Heil Hitler« hinterhergerufen. Das war nicht lustig. Oder ich wurde gefragt, ob wir in der DDR eigentlich Radio hören konnten und genug zu essen hatten. – Da habe ich unwillkürlich angefangen, »mein« Land zu verteidigen. Ich kann mich erinnern, dass meine Gastmutter beim Einkaufen mal meinte, wir könnten ja Bananen mitnehmen, weil es die in der DDR ja nicht gegeben habe. Ich sagte dann: »Gar nicht wahr! Wir hatten immer Bananen!« (lacht)

 

Nach einem Jahr kamen Sie zurück nach Erfurt und alles war anders?

Nein, das ging schon. Aber meine Freunde fanden, ich hätte einen Akzent wie Rudi Carrell. (lacht) Ich war halt noch so in der Sprache drin und schon auch begeistert: Zwei Freundinnen sind später auch in die Niederlande gegangen, weil ich so schöne Geschichten erzählt habe.

 

Sie selbst gingen dann Jahre später nach Groningen, richtig?

Ich habe 1993 in Leipzig angefangen, Journalistik und Kulturwissenschaften zu studieren und wollte mit Erasmus nach England. Aber da durften nur die Anglistik-Studenten hin. Für mich hieß es schon wieder: Dänemark oder die Niederlande. Und da dachte ich: Dort kannst du die Sprache, kennst dich aus.

Ich bin dort unter anderem auf Johan Huizinga gestoßen, einen niederländischen Kulturhistoriker, der 1895/96 auch mal in Leipzig war und über den ich später meine Magisterarbeit in Kulturwissenschaften geschrieben habe. Ich habe auch noch ein Praktikum im Goethe-Institut Amsterdam gemacht und so wurde die Verbindung zu den Niederlanden immer enger. Mittlerweile habe ich mehrere Bücher über niederländische Themen geschrieben, habe in Holland die Liebe gefunden und bin schon deshalb mindestens eine Woche im Monat in Amsterdam.

 

Man kam jetzt beim Buchmesse-Gastland-Auftritt also gar nicht an Ihnen vorbei …

Das haben Sie gesagt! (lacht) Tatsächlich kennen wir – der Nederlands Letterenfonds, der zusammen mit Flanders Literature hinter dem Gastland-Auftritt steht, und ich – uns schon seit 2016, als die Niederlande und Flandern Ehrengast der Frankfurter Buchmesse waren. Ich habe seitdem immer mal wieder Veranstaltungen mit holländischen und flämischen Autoren moderiert.

 

Sie arbeiten als Literaturkritikerin für die ARD und den Deutschlandfunk, sind Geschäftsführerin des Sächsischen Literaturrats, dazu jetzt noch das Gastland-Programm. Sind Sie eigentlich ein sehr strukturierter Mensch?

Ich gebe zu: Ich bin sehr, sehr strukturiert. Ich habe auch kein Problem damit, zwischen den Jobs zu switchen, merke aber, dass es Stress verursacht. Das nehme ich zur Kenntnis. Ich habe meine wohlsortierten To-do-Listen – MDR, SLR und LBM –, da kann ich immer schön abhaken. Was dabei natürlich hilft: Vieles ist miteinander verbunden. Davon profitieren die einzelnen Aufgaben meines Erachtens.

 

Es kann aber auch zu Interessenkonflikten kommen …

Ja, da muss man aufpassen und das tue ich auch. Ich bespreche derzeit zum Beispiel kein einziges Buch eines holländischen oder flämischen Autors für den Hörfunk. Das kann und würde ich nicht machen, ich bin jetzt deren Interessenvertreterin. Ich bespreche grundsätzlich auch keine Bücher sächsischer Autoren. Im Literaturrat und beim Gastland geht es im besten Sinne des Wortes um Werbung für die Literatur, bei meiner Arbeit für den MDR um journalistischen, kritischen Umgang damit und Abstand dazu.

 

Ihr privates und berufliches Leben prädestiniert Sie als Gastland-Kuratorin. Aber wie kam es ganz konkret zu der Zusammenarbeit? Wird man da gefragt? Bewirbt man sich?

Wie gesagt, wir kennen und schätzen uns seit 2016. Ich wurde 2022 angerufen, ob ich mich nicht für die Stelle einer Kuratorin bewerben wolle, was ich getan habe. Es gab mehrere Gespräche und tatsächlich waren meine holländische Kollegin Margot Dijkgraaf und ich zunächst Konkurrentinnen. Es hat sich aber schnell rausgestellt, dass wir uns sehr gut ergänzen. Sie kennt sich natürlich viel besser in der niederländischen und flämischen Literaturszene aus als ich, war aber vorher noch nie in Leipzig, wo ich mich gut auskenne. Ich hätte übrigens auch ein bisschen Muffensausen gehabt, das ohne sie zu machen. Außerdem sieht es komisch aus, wenn eine Deutsche alleine ein Niederlande-Flandern-Programm kuratiert. Margot und ich sind also wirklich ein Dreamteam.

 

Ist diese geteilte Aufgabe mit Margot Dijkgraaf ähnlich wie die im Sächsischen Literaturrat mit Anja Kösler der Ausgleich zum einsamen Leben als Kritikerin und Autorin?

Ich bin mittlerweile tatsächlich ein großer Fan von weiblichen Doppelspitzen. Anja und ich haben ganz verschiedene Talente und berufliche Schwerpunkte, die es aber beide für die Gesamtaufgabe braucht. Man bräuchte beim Literaturrat eigentlich die berühmte eierlegende Wollmilchsau: Du musst den Haushalt aufstellen, Pressearbeit machen, präsentieren und moderieren und so weiter – das in einer Person zu vereinigen, ist schwer bis unmöglich. Und mit Margot ist das genauso.

Was die Einsamkeit angeht: Ich habe kein Problem damit, alleine zu arbeiten. Aber in der Tat ist es ein schöner Ausgleich: Hier bin ich unter Menschen und da sind die Bücher und die Texte, denen ich mich alleine widme. Das ist schon alles richtig so.

 

Kommen wir doch zu Ihren Büchern. »Hölle und Paradies« dreht sich um den Querido-Verlag, der ab 1933 in Amsterdam Bücher von Joseph Roth, Irmgard Keun, Klaus Mann und vielen anderen Exilschriftstellern veröffentlichte. Wie kam es dazu?

Als ich gesehen habe, dass die Niederlande und Flandern 2016 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse würden, dachte ich mir: Also, wenn dir dazu nichts einfällt … Ich habe ein bisschen recherchiert und bin schnell bei Querido gelandet. Eine Biografie des niederländischen Verlegers Emanuel Querido gab es schon, aber die Geschichte über ihn und Fritz Landshoff, seinen deutschen Partner, mit dem er den Exilverlag betrieb, die fehlte noch.

Ich habe vorhin gesagt, dass ich sehr strukturiert arbeite. Aber wenn ich ein Buch schreibe, bin ich überhaupt nicht strukturiert. Da fange ich an, wild zu recherchieren, wühle mich tief ein, um etwas auszugraben. Die Struktur kommt später beim eigentlichen Schreibprozess, wenn ich weiß, wie viele Kapitel und wie viele Seiten es werden. Das arbeite ich nach und nach schön ab. Beim Querido-Buch hieß das: Jedes Kapitel spielt an einem Ort in Amsterdam – da gehe ich hin, schaue ihn mir an, wie er heute aussieht, und dann gehe ich in die Geschichte zurück.

 

Sie haben zuletzt ein Buch über den Strand geschrieben, das »Am Rande der Glückseligkeit« heißt. Der Titel deutet schon an, dass es darin nicht nur um jenen sandigen Streifen kindlichen Glücks geht, den die meisten kennen. Was war Ihre Idee zu dem Buch?

Da bin ich ähnlich wie beim Querido-Buch vorgegangen. Ich habe wieder sehr unstrukturiert vor mich hin recherchiert und kam schließlich auf dieselbe Struktur, nur viel größer: verschiedene Orte, diesmal Strände in Europa, in ihrer Gegenwart und ihrer Geschichte.

 

Kannten Sie die Strände vorher alle schon?

Ein paar. Die anderen habe ich dann noch bereist – eine sehr schöne Recherchearbeit. Anfangs dachte ich noch: Ach, schreibst du mal ein schönes, leichtes Buch über den Sehnsuchtsort Strand. Aber wenn man sich ein bisschen vertieft, merkt man: So leicht wird das gar nicht – weil eben die Normandie mit dem D-Day ins Spiel kommt, in Ostende die Exilliteratur, in Benidorm der Massentourismus und die Klimakrise und schließlich Lesbos, wo Geflüchtete übers Meer am Strand ankommen. Damit musste das Buch enden, das war mir schnell klar. Denn das ist ja die These meines Buches, dass europäische Geschichte, die vor allem in den Zentren passiert, immer auch ihre Konsequenzen hat an ihren Rändern, am Strand.

 

Das Buch wurde mit dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis ausgezeichnet und wie »Hölle und Paradies« ins Niederländische übersetzt – auch eine Auszeichnung, oder?

Auf jeden Fall. Man muss dazu sagen, dass ich mit dem Übersetzer Mark Wildschut zusammen bin, der nicht ganz zufällig auch beide Bücher ins Niederländische übersetzt hat und bei meinen Recherchereisen oft dabei war. Das ist also auch ein Familienprojekt, was für mich natürlich sehr schön ist.

 

Ich wollte jetzt eigentlich fragen, ob Sie die übersetzten Bücher dann noch mal gelesen haben.

Ich habe sie noch mal gelesen und ich habe mich da sehr gut wiedergefunden.

 

Es gab also keinen Zwist deswegen über vorzeitige Abreisen aus Amsterdam?

Nein. Ich habe auch schon mal eine englische Übersetzung eines meiner Texte gelesen – da dachte ich: Wer hat denn das geschrieben? Das kam mir sehr fremd vor. Bei Marks Übersetzungen habe ich das Gefühl: Genau so hätte ich es geschrieben, wenn mein Holländisch noch besser wäre.

 

Welche Bücher würden Sie denjenigen empfehlen, die sich aufs weite Feld niederländischer Literatur begeben möchten?

Harry Mulischs »Die Entdeckung des Himmels« ist ein dicker, kluger Schmöker, der eine ganze Welt eröffnet. Da macht man nichts falsch, sich mit ihm zu beschäftigen, Mulisch ist einer der »großen Drei« der niederländischen Literatur des 20. Jahrhunderts, zusammen mit Willem Frederik Hermans und Gerard Reve.

Vor ein paar Jahren habe ich »Kees, der Junge« von Theo Thijssen besprochen, das hat mich sehr berührt. Das Buch ist – so ein bisschen wie Harry Potter – eines, das man in jedem Alter lesen kann. Es handelt von einem kleinen Jungen, der verträumt und auch frech ist, durchs Amsterdam des frühen 20. Jahrhunderts streunt und sich dann den »Schwimmbadschritt« ausdenkt, um schneller ins Schwimmbad zu kommen. Das ist so ein weit ausgreifender Schritt, im Grunde genommen so, als wenn er ohne Ski Ski fährt.

Außerdem würde ich noch Lize Spit empfehlen, die auch zur Leipziger Buchmesse kommt. Sie ist in Flandern sehr berühmt. Als ihr zweites Buch erschien, wurde das in den flämischen Fernsehnachrichten verkündet. Sie schreibt sehr psychologische Romane, die an die Schmerzgrenze gehen und bei denen man auch merkt, dass Flandern etwas anderes als die Niederlande ist. Da kehrt eine junge Frau zurück an den Ort ihrer Kindheit auf dem Land, wo sehr viele schlimme Dinge passiert sind.

Ähnlich operiert auch Lucas Rijneveld aus den Niederlanden, der als Marieke angefangen hat zu schreiben, sich dann Marieke Lucas nannte und heute nur noch Lucas heißt – auch wenn auf den deutschen Büchern immer noch Marieke Lucas Rijneveld steht. »Mein kleines Prachttier« – 2022 in der Kategorie Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – erzählt eigentlich eine Missbrauchsgeschichte von einem erwachsenen Tierarzt an einem jungen fragilen Mädchen auf einem Bauernhof. Aber es ist mit so viel Empathie und so viel psychologischem Geschick geschrieben, dass man sich die ganze Zeit atemlos fragt: Ist das jetzt Missbrauch? Ist es Liebe? Ich habe in Amsterdam das Theaterstück dazu gesehen, mit zwei lebendigen Kühen auf der Bühne, da wurde diese Ambivalenz auch sehr deutlich: dass eine junge Frau, deren Weiblichkeit gerade erwacht, natürlich auch Macht hat über so einen Mann; dass sie bei ihm etwas sucht, Anerkennung, die sie in ihrer Familie nicht bekommt, und dass sie ihn auch provoziert und mit ihm spielt. Wie Rijneveld diese beiden Menschen schicksalshaft miteinander verkuppelt, das ist großartig.

 

Würden Sie sagen, es gibt bei aller Pluralität etwas, das »die niederländische« von der »deutschen« Literatur unterscheidet?

So eine gewisse Coolness vielleicht. Was auch ein Unterschied sein könnte: dass wir als Deutsche doch den Ballast der Geschichte immer mit uns rumtragen, ob wir das wollen oder nicht. Das höre ich auch öfter mal in Holland: »Bei euch geht’s immer ganz schön schnell um den Zweiten Weltkrieg.« Das ist in den Niederlanden schon anders, da ist mehr historischer Abstand, der eine größere Freiheit im Erzählen mit sich bringt.

 

Andererseits ist das einzige niederländische Buch, das die ganze Welt kennt, das Tagebuch der Anne Frank.

Ja, das wird oft als niederländisches Buch wahrgenommen. Dabei war Anne Frank ja gar keine Niederländerin, auch wenn sie ihr Tagebuch auf Niederländisch geschrieben hat. Da muss man also genau hinschauen. Denn dann erfährt man auch, dass die Holländer – die Flamen etwas weniger – sich ihren eigenen historischen Verwerfungen stellen müssen: In den Niederlanden sind im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ gesehen die meisten Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten umgebracht worden, das heißt, die Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern hat hier besonders gut funktioniert. Das Nationaal Holocaust Namenmonument in Amsterdam erinnert an die Namen von rund 102.000 jüdischen Opfern.

 

Wir waren vor Kurzem zusammen mit anderen Journalistinnen und Journalisten dort, standen zwischen den unendlich vielen Gedenksteinen auch vor denen für Emanuel Querido und Anne – dort mit ihrem Geburtsnamen Annelies – Frank. In Leipzig ist derzeit die Ausstellung »Deine Anne – Ein Mädchen schreibt Geschichte« zu sehen. Und auch wenn der Übergang jetzt holpert: Eine letzte Frage zum »Gastland« der Buchmesse, das ja streng genommen gar keins ist. Es klang hier und da schon an, aber: Warum eigentlich Niederlande und Flandern?

Wenn man ganz grob draufguckt, könnte man es mit einem gemeinsamen Auftritt von Deutschland, Österreich und der Schweiz vergleichen: Es geht um einen Sprachraum, mit einem großen und einem kleineren Gebiet mit jeweils sprachlichen Eigenheiten. Flandern hat eine reiche Literaturszene, ist aber natürlich kein eigenes Land, sondern ein Teil Belgiens. Die Nähe zu Frankreich und zum französischsprachigen Teil Belgiens hat ebenfalls Einfluss. Auch historisch ist Flandern eine eigene Region. Man schreibt da im Zweifelsfall etwas anders als in den Niederlanden. Aber man kann die niederländische Literatur einfach nicht von der flämischen trennen. Das ist eine Region mit gemeinsamer Sprache und Kultur und es würde überhaupt nicht funktionieren, unabhängig voneinander Gastland-Auftritte zu organisieren.

 

> Alle Informationen zu Lesungen, Ausstellungen und Rahmenprogramm sowie neuen Büchern aus dem Gastland: www.allesausserflach.de

> Interviews mit rund 30 zeitgenössischen Autorinnen und Autoren im niederländisch-flämischen Bücherpodcast »Kopje Koffie«: www.kopje-koffie.podigee.io

> Ausstellung »Deine Anne – Ein Mädchen schreibt Geschichte«: bis 15.3., Mo–Do 7–18, Fr 7–16 Uhr, Untere Wandelhalle des Neuen Rathauses, Martin-Luther-Ring 4–6, 04109 Leipzig, www.annefrank.de


Biografie

Bettina Baltschev wurde 1973 in Berlin geboren, wuchs in Erfurt auf und kam 1993 nach Leipzig. Die studierte Journalistin und Kulturwissenschaftlerin arbeitet für den MDR und den Sächsischen Literaturrat. Zusammen mit Margot Dijkgraaf hat sie den Gastland-Auftritt der Niederlande und Flanderns zur diesjährigen Leipziger Buchmesse kuratiert. Zuletzt erschienen von ihr die gelobten Sachbücher »Hölle und Paradies« und »Am Rande der Glückseligkeit«. Sie lebt in Leipzig und Amsterdam.


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