Mit Kanonenkugeln jonglierte der Mann, der im Herbst 1843 sein Leipziger Publikum unterhielt; mit Kanonenkugeln und einem Ei. Kraftmeierei zur Unterhaltung war nur eine von vielen Formen der damaligen Zurschaustellung von Können und Körper. Andere ließen sich mit Gewichten behängen, trugen Menschen mit ihren ausgestrecken Armen. Auch muskulöse Frauen waren in diesen Programmen zu sehen, die im Englischen den Namen Sideshows tragen. Steilwandfahrer, Axtwerfer, Eisenbieger bevölkerten diese Welt, später stießen Menschen mit Bodyfications hinzu, die mit Tacker und Feuer experimentierten, Rasierklingen verspeisten und als menschliche Pendel agierten. An dieser Sideshow-Welt orientiert sich das neue Programm des Krystallpalast-Varietés: »Riskant – Varieté der Extreme« – es führt aber auf ein neues Level und zeigt in Leipzig Nie-Gesehenes.
Das Groteske und Anormale, das Monströse und Widernatürliche stellt seit jeher die gesellschaftliche Ordnung in Frage. In Mythen und im Karneval traten die Monster auf und versicherten die Menschen durch Verunsicherung von außen der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. In vielen alten Hochkulturen gab es bereits Interesse an abnormalen, entstellten, regelwidrigen Figuren. Neben besonderer Schönheit, Kraft und Mut sind es Züge des Monströsen, die das Bild der griechischen Götter prägen: Sie sind riesig oder winzig, von Tiergestalt, wechseln die Geschlechter. Dieser Kitzel durch Verunsicherung und Neugier zeigt sich auch an den Sideshows beziehungsweise Freakshows, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten. Im American Museum des P. T. Barnum etwa konnte man sehen: »menschliche Riesen, Zwerge, Schlangenmenschen, Siamesische Zwillinge, Hermaphroditen, arm- bzw. beinlose Wunder, den ›Fat Man‹ bzw. die ›Fat Lady‹, das ›lebende Skelett‹, die ›häßlichste Frau der Welt‹, ›The Bearded Lady‹, ›Leopardenmenschen‹, den ›Schildkrötenjungen‹, das ›Kamelmädchen‹, den ›hundegesichtigen Jungen‹, den ›Alligatormann‹, den ›Hummerjungen‹ oder auch die ›wilden Männer aus Borneo‹, ›Fiji Prinzen‹, ›Kannibalen‹ und das ›Missing Link‹«.
Es waren die Faszination und der Horror gleichermaßen, die den Anderen im »Freak« so abstoßend-anziehend machen, ein unheimliches Begehren gemixt aus Neugier und Abscheu. Solche Shows kamen auch in großer Zahl ins vergnügungssüchtige Leipzig. Ganzkörpertätowierte wie »das blaue Weib« traten auf, zum Beispiel in diversen Artistikformaten, aber auch ungewöhnliche körperliche Merkmale wie besonderer Haarwuchs und Größe, fehlende Gliedmaßen und Entstellungen wurden präsentiert, was oft ausbeuterische Züge hatte. Dazu zählen natürlich auch die rassistischen »Völkerschauen«. Vieles war allerdings gar nicht problematisch, sondern nur erstaunlich. Über einen »Steinschläger« schrieb die Presse: »Er legt den Stein auf eine feste Steinunterlage, umwindet sich die Hand mit einem Leinwandlappen, damit er sich nicht verletze, … schwingt den Arm mehrmals hin und her mit einer Wucht, daß, wer getroffen würde, unfehlbar zu Boden stürzen müßte, und schlägt endlich auf den Stein, der auf den dritten, vierten Schlag, oft aber noch eher in zwei oder mehrere Stücke zerspringt, als ob ein eiserner Hammer mit seiner ganzen Gewalt ihn zerschlagen.«
An die staunen machenden Momente dieser Sideshow-Tradition schließt nun der Krystallpalast an und führt zugleich darüber hinaus. Denn um eine einfache Reinszenierung soll es nicht gehen: »Unsere Arbeitsweise ist es, Themen in Grenzbereichen umzusetzen, die man so noch nicht kennt«, sagt Urs Jäckle, der künstlerische Leiter des Krystallpalast-Varietés. »Natürlich spielen Suspense und Thrill eine Rolle, aber eben auch Humor. Am Ende steht comic relief, die komische Entlastung.« Vier Jahre lang hat Jäckle an der Show gefeilt, sich ins Thema eingearbeitet, recherchiert, Künstlerinnen und Künstler angesprochen, um ein Programm zusammenzustellen mit »Disziplinen, wo einem der Atem stockt«. Wie kann man einen Tisch elegant an den Ohrläppchen transportieren? Wie erstellt man eine Kettensägen-Choreografie und wie sieht Schwertschluckerei heutzutage aus? – Bewusst verzichtet hat der Regisseur auf problematische Aspekte: Missgebildete Körper werden nicht zur Schau gestellt, Exotismus gibt es nicht und es wird kein plumper Voyeurismus bedient. Und doch wird die Schau-Lust nicht zu kurz kommen.
»Es geht nicht darum, krasser und krasser zu sein«, sagt Jäckle. »Es gibt weder echtes noch Kunstblut zu sehen. Uns geht es um das aktive Inszenieren von fast unmöglichen Fähigkeiten.« Den Einzelnummern wohnt daher auch ein Moment der Selbstermächtigung inne. Denn natürlich verlaufen sie freiwillig und kontrolliert. Und sie konfrontieren das Publikum durch sanfte Heftigkeit mit der Verletzlichkeit unserer Körper. »Wir haben allesamt starke Persönlichkeiten auf der Bühne, die das Publikum nicht verstören werden, sondern mitnehmen.« Wie in anderen Krystallpalast-Programmen auch steht der Ensemblegedanke dahinter. Alle Nummern sind in einen narrativen Rahmen eingebettet, den alle auf der Bühne gemeinsam erzeugen, um darin mit ihren Spezialfähigkeiten zu glänzen.
So wird zum Beispiel »Horrorprinzessin« Zora van der Blast ein Lichtschwert schlucken und erleuchtet respektive einleuchtend beweisen, dass das kein Fake ist. Fric à Frac wirbeln mit Messern um sich und machen barfuß auf scharfen Klingen balancierend gute Figuren. Mit Gummihuhn und eigener Haut geht Roc Roc-It an die Grenzen der Dehnbarkeit. Gefährliche Gedanken werden gelesen – mit großer Fallhöhe für den Magier. Butoh-Tanz trifft auf Kontorsion und Dislokation. Zum Teil wurden Vorführungen extra für Leipzig entwickelt. »Wir eröffnen eine Welt, in die man nicht so häufig eintritt«, sagt Urs Jäckle. »Es ist ein Vorwagen, wir vermeiden Ekel, aber mit der Verletzlichkeit kann gespielt werden. Die Show wird etwas auslösen, auch weil das Publikum durch unsere kleine Bühne direkt dran am Geschehen sitzt.«
> »Riskant«: 1.3.–22.6., Mi–So, verschiedene Zeiten, www.krystallpalast.de
> Literaturtipp: Gabriele Klunkert: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts. Göttingen. Cuvilier 2010. 567 S., 57,90 €