»Was würdest du retten?« und »Was ist Kultur für dich?« – Diese beiden Fragen sind rechts und links am Eingang der Ausstellung »Kulturretter:innen« zu lesen. Antworten – wie etwa Rezepte oder Fotos als Rettungsobjekte oder der Sinn des Lebens als Inhalt von Kultur – sind auf Klebezetteln zu lesen.
Die Ausstellung zeigt die vielen Ebenen von Kultur und deren Rettung bezogen auf den Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die unterschiedlichen Generationen in den vier Kapiteln: Hoffnung, Mut, Leben und Gedenken. Vorgestellt werden intermedial per Text und Bild, Film sowie Audiospur Initiativen und Menschen, die Kultur während und nach dem Nationalsozialismus retteten und retten. Organisiert wurde das Ganze von der Kooperative Berlin, einem »Netzwerk für digitale Kulturproduktion«, unterstützt unter anderem von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.
Eine übergroße Nachbildung einer Schreibfeder erzählt von der Rettung mit und durch Kultur. Die Feder stellt ein Objekt aus der hiesigen Gedenkstätte für Zwangsarbeit dar. Die Ausstellungstafel erzählt die Geschichte hinter dem Objekt: Im Sommer 1942 verhaftet die Gestapo Danuta Brzosko-Mędryk. Die junge Frau wird ins KZ Majdanek deportiert, kommt zwei Jahre später als Zwangsarbeiterin ins KZ-Außenlager Buchenwald der HASAG nach Leipzig – in der heutigen Kamenzer Straße –, arbeitet hier täglich zwölf Stunden in der Panzerfaust- und Munitionsproduktion. Sabotiert wird die Kriegsproduktion mit Spänen in den Maschinen. Brzosko-Mędryk tauscht Brot gegen die Feder, um Gedichte und Lieder zu schreiben, organisiert Lesungen. Nach der Befreiung im April 1945 sagt sie gegen die NS-Verbrecherinnen und -Verbrecher aus. Sie erhält 1989 den Aachener Friedenspreis, stirbt mit 94 Jahren 2015 in Warschau.
Eine Ausstellungstafel stellt die Initiative Dessauer Ufer aus Hamburg vor, die seit 2017 das öffentliche Erinnern an jüdische Zwangsarbeiterinnen im Lagerhaus G im Stadtteil Kleiner Grasbrook organisiert. Das ehemalige Außenlager des KZ Neuengamme möchte die Initiative als einen Gedenk- und Forschungsort öffentlich zugänglich machen sowie die Vermittlung zu diesem Teil der Stadtgeschichte sichern. Gerettet werden sollen hier nicht nur Geschichten über diesen Ort, sondern es stellt sich zudem die Frage: »Was kann Stadt sein und welche Rolle kann Erinnerungskultur in der Stadt der Zukunft spielen?«
Um Erinnerungskultur in der eigenen Familie drehen sich zwei ausgestellte Projekte: Als sie jünger war, konnte Nora Hespers die Intensität nicht verstehen, mit der ihr Vater über die Ermordung seines Vaters durch die Nazis sprach. Hespers schrieb später das Buch »Mein Opa, sein Widerstand gegen Nazis und ich«, das 2021 bei Suhrkamp erschien, und erzählt im Podcast darüber, was ein Film in der Ausstellung zeigt. Anja-Susann Schröder aus Hamburg hingegen fand den Namen ihrer Urgroßmutter auf einer Deportationsliste und begann mit der Recherche, bei der sie ihre Söhne unterstützen. Bereits als Kind wusste sie, dass ihre Urgroßmutter im KZ gewesen war, doch was das konkret bedeutete – darüber herrschte Schweigen in der Familie. Erst durch ihre Recherche erfuhr Schröder, dass ihre Vorfahrin Jüdin war, und konnte den Stammbaum ihrer Familie rekonstruieren, der zeigt, dass nicht nur ihre Urgroßmutter den Nazis zum Opfer fiel. In der Folge organisierte Schröder die Verlegung von bisher elf Stolpersteinen für ihre von den Nazis ermordeten Verwandten. Über ihre Recherche und ihr Engagement gibt der von ihrem Sohn Tom gedrehte Film Auskunft, der im Tapetenwerk per Tablet oder QR-Code gesehen werden kann.
Eine Graphic Novel auf einem Tablet stellt Jaka und Stanka vor. Jaka Smerkolj Simoneti lebt in Ljubljana. Seine Oma – Stanka Krajnc Simoneti – wird 1944 verhaftet und kommt mit 16 Jahren in das KZ Uckermark in der Nähe von Fürstenberg. Nach 1945 schreibt sie über das Lager eine Geschichte und erzählt ihrem Enkel, davon. Die Initiative für einen Gedenkort zu diesem ehemaligen KZ stellt eine weitere Tafel vor. In das KZ wiesen Kriminalpolizei und Fürsorgeämter von 1942 bis 1945 ungefähr 1.200 Mädchen und junge Frauen im Alter von 14 bis 21 Jahren ein. Von Dezember 1944 bis April 1945 wurde ein Teil des Lagers als Vernichtungslager genutzt, in dem ungefähr 5.000 Frauen ermordet wurden. Nach 1945 wird das Lager dennoch nicht als KZ eingestuft, werden die ehemaligen Inhaftierten als »Asoziale« stigmatisiert: Die ehemalige Lagerleiterin arbeitet nun in hoher Funktion bei der Kriminalpolizei. Die Anerkennung der Inhaftierten als Opfer des NS beginnt erst in den achtziger Jahren, 2005 findet die erste öffentliche Gedenkveranstaltung statt.
Schätzungen wie der Zeitstudie von 2020 zufolge waren in Hitlerdeutschland 20.000 bis 200.000 Menschen im Widerstand – nach der MEMO-Jugendstudie 2023 glaubt heute fast ein Drittel der Deutschen, dass ihre Familie im NS Menschen geholfen hat. Diese Diskrepanz hat mit dem Schweigen über die Zeit und die damit verbundene Amnesie zu tun. Das beginnt oft im Privaten: Woher stammen beispielsweise historische Gegenstände im Familienhaushalt? – Provenienzforschung betrifft nicht nur Museen. In Vergessenheit und aus dem kulturellen Gedächtnis fallen auch Musikstücke, die nicht aufgeführt werden. Eine weitere Tafel stellt Emanuel Meshvinski vor, der mit dem Jewish Chamber Orchestra Hamburg an vergessene Komponistinnen und Komponisten – wie Viktor Ullmann – erinnert.
Die Ausstellung zeigt per Bild und Ton sowie QR-Codes an den einzelnen Tafeln die Vielfalt an Rettungsversuchen auf. Auf Tablets sind zusätzliche Informationen zu Zeit und Ereignissen über dieses schwierige und doch so aktuelle Themenfeld verfügbar.
> bis 12.4., Mi–So 13–18 Uhr, Tapetenwerk, Halle C 01
> www.kulturretterinnen.net