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Allein zu Haus

Der einzige Bewohner eines Hauses in Leipzig wehrt sich gegen den Eigentümer – das Amtsgericht gibt ihm recht

  Allein zu Haus | Der einzige Bewohner eines Hauses in Leipzig wehrt sich gegen den Eigentümer – das Amtsgericht gibt ihm recht  Foto: Dpa/Julian Stratenschulte

Fast 15 Jahre lebt Sebastian (Name von der Redaktion geändert) in seiner Wohnung in der Lützner Straße. Und ziemlich genau die Hälfte dieser Zeit versuchen seine Vermieter ihn schon loszuwerden. Doch Sebastian ist nach wie vor da – und darf es auch nach dem aktuellen Urteil des Amtsgerichts bleiben, das den Fall zwischen den beiden Parteien verhandelt. Wir haben den Prozess beobachtet.

Leipzig im Jahr 2009: Die Stadt ist leer, nicht mehr so leer wie zehn oder fünf Jahre zuvor, aber leer. Heißt: Hauseigentümer müssen sich etwas einfallen lassen, um ihre Wohnungen zu vermieten, insbesondere, wenn ihre Immobilien noch nicht saniert sind und »trocken gewohnt« werden müssen. Sogenannte Wächterhäuser sind dafür ein gängiges Modell: Hausgemeinschaften und Vereine mieten zu sehr niedrigen Preisen ganze Häuser, renovieren diese dafür in Eigenregie – die so Wohnenden zahlen wenig Miete und können sich austoben bzw. ihr Zuhause individuell gestalten, die Vermietenden müssen sich nicht weiter um die Instandhaltung ihrer Häuser kümmern. Nach fünf oder sieben Jahren, so zumindest die Idee der Eigentümer, sind sie die Wächter los und haben im Idealfall eine dann besser vermietbare Immobilie oder mehr Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt. So ähnlich hatten es sich vermutlich auch die Eigentümer des Hauses, in dem Sebastian wohnt, gedacht. Und tatsächlich: Der Verein, der das Haus ab 2006 anmietet, ist wenige Jahre später Geschichte, alle Vereinsmitglieder sind längst ausgezogen. Auch alle Wohnungsmieterinnen und -mieter, bis auf Sebastian. Er ist immer noch da und er zahlt immer noch die ursprünglich vereinbarte Monatsmiete für seine Wohnung.

Irgendwann hängt eine Überwachungskamera im Hinterhof des Geländes, auf dem die Hauseigentümer selbst wohnen und ihre Firmen haben. Die Kamera soll vor Einbruch schützen, sagen sie später, ist aber nicht auf den Boden, sondern nach oben gerichtet, auf Sebastians Wohnung. Sebastian klagt dagegen, bekommt recht – aber von den Vermietern ein Betretungsverbot für den Hinterhof. Dort stehen seine Mülltonnen – standen, muss man sagen, denn von da an stehen sie bei ihm im Wohnhaus. Ab Dezember 2020 wird Sebastians Miete nicht mehr in bar angenommen. Seitdem hinterlegt er sie beim Amtsgericht – ein rechtlich abgesichertes Verfahren in solchen Fällen. Die Hauseigentümer haben das Geld bisher nicht dort abgeholt – Sebastian schuldet aber keine Miete. Der Anwalt der Eigentümer behauptet zwar im Prozess einmal, Sebastian habe die Miete nie hinterlegt, aber die Quittungen vom Amtsgericht belegen das Gegenteil.

Wie verfahren die Sache ist, wird am vorletzten Verhandlungstag deutlich: Beide Seiten betonen zwar ihre Verhandlungsbereitschaft, aber der Anwalt der Hauseigentümer macht zur Bedingung für einen Kompromiss, dass Sebastian auszieht, während Sebastians Anwalt zur Bedingung macht, dass Sebastian in der Wohnung bleiben darf. Früher im Prozess hat der Anwalt der Hauseigentümer die »Endlösung« in der Sache gefordert – das Wort ließ die Anwesenden zucken. Was einem journalistischen Beobachter im Prozess auffällt: Keine der drei Seiten, nicht der eine Anwalt und nicht der andere, aber auch nicht die Richterin fragen konsequent nach, wenn Zeugen – völlig nachvollziehbar – in trüben Erinnerungen von vor zehn Jahren »oder so« fischen.

Am 2. Oktober 2023 hat die Richterin ihr Urteil gesprochen – zugunsten von Sebastian. Die Hauseigentümer sind in Berufung gegangen. Aber auch Sebastian und sein Anwalt fechten das Urteil an, weil sie darin wesentliche Teile der Verhandlung nicht wiederfinden – die aber in nächster Instanz von Bedeutung sein könnten. Am 20. März – nach unserem Redaktionsschluss – gibt es einen weiteren Termin am Amtsgericht. An einem Verhandlungstag im Sommer 2023 hat die Richterin zudem geäußert, dass sie davon ausgehe, dass der Fall noch an die Staatsanwaltschaft gehe, da eine Seite nicht wahrheitsgemäß vortrage. Mit anderen Worten: Der Konflikt ist nicht beendet.


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