anzeige
anzeige
Politik

​​​​​​​Querfront-Dekade

Seit zehn Jahren erleben wir eine krude Mischung aus ein bisschen Frieden, Verschwörungsmythen und rechten Umsturzfantasien – eine Rückschau

  ​​​​​​​Querfront-Dekade | Seit zehn Jahren erleben wir eine krude Mischung aus ein bisschen Frieden, Verschwörungsmythen und rechten Umsturzfantasien – eine Rückschau  Foto: Thomas Witzgall

Mit der Annexion der Krim und anderer Teile der Ukraine durch Russland begann eine Entwicklung, die das politische Klima bis heute prägt: Querfrontstrategien, die links und rechts mit einfachen Botschaften, völkischem Ideenwirrwarr, politischer Naivität und dem Aushöhlen von Begriffen vereinen wollen. Seit Frühjahr 2014 kehren solche Erscheinungen wellenartig wieder zurück und zum Teil mit gleichen Akteuren.

Frühjahr 2014

Ein bisschen Frieden: Die Montagsdemonstrationen locken mit verkürzter Kapitalismuskritik, Kleine-Leute-Wut und Populismus auf die Straßen. Mehrere Hundert Empörte kommen wöchentlich auf dem Augustusplatz zusammen. Sie sehen sich als Wiedererweckung der 89er-Bürgerbewegung, ab Ende März nehmen sie den Ukraine-Krieg zum Anlass, um Kundgebungen »gegen den Krieg« abzuhalten und multithematischer Empörung Luft zu verschaffen.

»Wir sind keine Nazis, keine Antisemiten. Wir sind Menschen!«, ist zu hören, »Spalter!« ebenso. Man meint, eine stille Mehrheitsmeinung zu artikulieren. Immer wieder ist von der »Wahrheit« die Rede. Vor der hätten verlogene Politiker Angst, Medien würden lügen.

Die Organisatoren erweitern das Motto zu »Nie wieder Krieg & Faschismus«. Die Mischung des Publikums zeigt etwas anderes: Darunter befinden sich Mitglieder von NPD und AfD, Fans von Nazi-Bands. Man lässt Redner wie Ken Jebsen auftreten, Anchorman der verschwörungstheoretischen Szene.

Mike Nagler zählt zu den Organisatoren – acht Jahre später wird ihm pro-russische Propaganda auf dem Filmfestival Globale vorgeworfen (s. kreuzer 10/2022). Hagen Grell erfährt hier seine Politisierung. Grell begleitet die Kundgebungen mit der Kamera, wird später zum extrem rechten Youtuber. Er interviewt unter anderem Stephane Simon, der auf den Demos spricht. Dieser trat zuvor im Rahmen der NPD-gesteuerten »Bürgerinitiative Gohlis sagt Nein« auf. Man wird ihn später unter anderem bei Legida wiedersehen.

Sommer 2014

Mitte Juni erfolgt die Spaltung der Demo. Der Mehrheit auf dem Augustusplatz sind zu deutliche Querfront-Ausflüge zu viel. Es finden für kurze Zeit zwei Demonstrationen parallel statt: auf dem Augustusplatz und wahlweise auf dem Markt oder dem Richard-Wagner-Platz. Dort geht es thematisch immer wieder deutlich in den rechten Bereich, es fallen Begriffe wie »BRD-GmbH«. Stephane Simon greift oft vorm versprengten Häufchen zum Mikro. Auch die Demo auf dem Augustusplatz schrumpft zusammen. Beide Veranstaltungen überleben den Sommer nicht. Legida-Leute werden hier aber politisiert – auch einige Führungsfiguren wie Markus Johnke, der hier seine ersten Erfahrungen als Redner macht.

Januar 2015

Nach dem Rückzug zum Stammtisch weht von Pediga in Dresden auch in Leipzig ein neuer Wind, reaktiviert Teile der Montagsmahnwächter und spült ihnen weiteres Personal aus jener Gruppe zu, die mittlerweile »besorgte Bürger« genannt wird. Flankiert wird Legida von Beginn an von extrem Rechten und Nazi-Hooligans. Mit etwa 4.000 Teilnehmenden gibt es die mit Abstand größte …gida-Demonstration außerhalb Dresdens. In den Wochen danach ebbt der Zustrom merklich ab.

Anfangs tritt Silvio Rösler, einschlägig bekannter Hool mit Nähe zur erwähnten »Bürgerinitiative Gohlis«, als Kopf auf. Dann ist vor allem der bei den Montagsmahnwachen politisierte Wurzener Markus Johnke das Gesicht von Legida. Längere Zeit Mitorganisator ist Jörg Hoyer, ein Heidenauer mit Militärfimmel.

Herbst/Winter 2015

Im Herbst 2015 tritt Rösler zurück, gründet die nun offen extrem rechte Splittergruppe Offensive für Deutschland (OfD), die über ein paar Kleinstdemos nicht hinauskommt. Eine OfD-Kundgebung in der Südvorstadt führt am 12. Dezember zu heftigem linkem Gegenprotest, Barrikadenbau und großem Polizeieinsatz.

2016

Das letzte Mal, dass Legida übers übliche Maß hinaus von sich reden macht, ist der erste Jahrestag am 11. Januar. Gut abgestimmt nutzen Nazischläger den Umstand, dass ein guter Teil des »linken« Viertels Connewitz zum Protest gegen Legida in der Innenstadt angetreten ist, um es zu überfallen. Folge: erheblicher Sachschaden, einige verletzte Personen, 215 Festnahmen.

Vor der Bundestagswahl im September demonstriert Legida für die AfD. Zum Jahreswechsel verkündet Arndt Hohenstädter aus dem Orga-Team das Ende der Mobilisierung. Der Rechtsanwalt taucht später bei einer Querdenken-Veranstaltung wieder auf, aber nur als Teilnehmer. Im Legida-Umfeld zeigt sich außerdem Reinhard Rade, der nach der Wende nach Leipzig kam, um hier die Partei Die Republikaner aufzubauen.

Interim

Große Protestwellen bleiben in den Folgejahren aus, was nicht heißt, das nichts geschieht: beispielsweise identitäre Papierschnipsel zum Katholikentag (2016), Compact-Konferenz (2017), immer wieder Proteste gegen und Beschädigungen an Geflüchtetenunterkünften. Die zwischenzeitlich gegründete Bürgerbewegung Leipzig kann nicht an Legida anschließen. Auch die mehrfachen Auftritte von Ex-AfD-Politiker André Poggenburg bleiben in ihrer öffentlichen Wirkung bedeutungslos.

Dafür wird Leipzig zu einem Zentrum rechter Medien: Das Compact-Magazin wird teilweise hier produziert, »Compact TV« auch, in dem auch Mahnwachen-Protagonist Mike Nagler zu Wort kommt. Gedreht wird im Studio von Nuo Viso. Das Leipziger Unternehmen veröffentlicht Videos mit Inhalten der Truther-Bewegung mit verschwörungsmythischen und esoterischen Themen. Einige Zeit ist mit Hagen Grell ein Protagonist der Montagsdemos für die Firma tätig. Er führt unter anderem ein viel geklicktes Interview mit einem falschen Bundeswehrsoldaten, der behauptete, er habe in Afghanistan Zivilisten erschießen müssen.

Frühjahr 2020

Mehrfach protestieren bis zu 200 Personen gegen staatliche Corona-Maßnahmen. Auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz gibt es eine »Tanzdemo« und einen »Spaziergang« sowie weitere Kundgebungen. Wie bei Montagsmahnwachen gibt es am offenen Mikro der Bewegung Leipzig auch krude Redebeiträge mit verschwörungsgläubigen Inhalten. Unter anderem spricht der einschlägig bekannte und bereits erwähnte Stephane Simon. Der zum Orgateam gehörende Karsten Wolf bezieht sich auf 1989. Er ist schnell wieder aus dem Team verschwunden, hat aber in seinem mittlerweile eingestellten Internetprojekt »Leipziger Freiheitskerzen« unter anderem Anette Hofmann (s. u.) 2022 einen Preis verliehen. Immer wieder laufen Menschen montags unter wechselnden Namen auf der Straße, mischen Corona-Maßnahmen-Kritik mit diversen anderen Themen.

Herbst 2020

Hagen Grell ist als Youtuber am 7. November bei einer großen Kundgebung mit mehr als 20.000 Menschen dabei. Querdenken hat gerufen, mit dabei sind zahlreiche Akteure auch aus dem extrem rechten Milieu. Teile der Kundgebung durchbrechen Polizeiketten, greifen Journalisten und Gegendemonstranten an.

2021

Die »Bürgerbewegung Leipzig 2021« (BBL) wird maßgeblich von Ex-NPD-Kader Volker Beiser gegründet. Pandemieleugnung und Umsturzfantasien bestimmen ihr Programm. Gesichter aus der extrem rechten Szene wie André Poggenburg treten auf. Ins Publikum mischen sich immer wieder augenscheinlich Rechtsextreme aus der Hooligan-Szene, dazu auch Anhänger der Freien Sachsen – starke Legida-Vibes. Der Verfassungsschutz stuft die Bewegung im Dezember 2021 als rechtsextremistisch ein.

Januar 2022

Reinhard Rade – zunächst als Teilnehmer von Pandemie-Leugner-Demos aufgefallen – meldet für den 29. Januar 2022 eine entsprechende Demonstration am Völkerschlachtdenkmal an.

Frühjahr 2022

Seit zwei Jahren drehen sich die überwiegend montags stattfindenden Demonstrationen und Kleinstumzüge um rechtsoffene Themen und Wissenschaftsleugnung. Mit dem russischen Vollangriff auf die Ukraine tritt verstärkt Pro-Putin-Propaganda in Erscheinung. Anette Hofmann fungiert als Anmelderin von »Leipzig steht auf« und sagt der LVZ, bis vor Kurzem im linken Zentrum in der Gießerstraße aktiv gewesen zu sein. Bis zu drei miteinander zerstrittene rechte Demos ziehen montags durch die Stadt – stets mit wenig Anhang.

Februar 2023

Einem Aufruf der Linkspartei folgend, protestieren auf dem Kleinen Wilhelm-Leuschner-Platz 100 Menschen gegen eine »Eskalationsspirale« und deutsche Panzerlieferungen in die Ukraine. Anette Hofmann ist darunter, muss auf Ordneransage aber ihr Transparent einrollen.

Herbst 2023

Die extrem rechte BBL mischt sich auf pro-palästinensischen Demos zwischen arabisch-stämmige Familien, autoritäre Linke und Antisemiten.

Frühjahr 2024

Hagen Grell kündigt das Aus seiner Video-Plattform an, auf der unter anderem der bei Youtube gesperrte antisemitische Kanal »Der Volkslehrer« erschien. Mike Nagler bewirbt antiisraelische Demonstrationen und trommelt auf Social Media für das Bündnis Sahra Wagenknecht.


Kommentieren


0 Kommentar(e)