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Postkarten aus Prag

von Martina Lisa

  Postkarten aus Prag | von Martina Lisa  Foto: The National Library of Israel

1: Alle suchen Kafka hier, fast alle. Manche zwischen den Zeilen, manche unter den Fassaden, in den Straßen und Gassen, wo sie noch eine Spur, einen Hauch zu finden hoffen. Sie setzen sich ins Kafka Hummus Café, kaufen Taschen, T-Shirts und Kühlschrankmagneten, warten mit gezückten Kameras, bis sich hinter einem Einkaufszentrum ein riesiger Alukopf dreht. Sie suchen sein Grab auf oder das Café Arco, wo heute ein Selbstbedienungsrestaurant ist, und da sitzen sie dann, am Tisch mit der enttäuschten, erschöpften Sucherei bei Pommes und überbackenem Käse und das spült auch kein böhmisches Bier mehr weg. Doch Kafka lebt! Natürlich. Und wo sonst als in der Prager Metro. Es gibt da eine Station, die den meisten Suchenden entgehen mag: Ládví. Unscheinbar, fast am Ende der Welt, auf jeden Fall weit von jener von damals entfernt, umgeben von Beton und Platten. Aber genau dort, dort lässt er sich hier und da blicken, stets in Schwarz gekleidet, will er unter keinen Umständen die Tiefen der Halle verlassen. Er, der sehr gut Tschechisch verstand, wusste sehr wohl, dass er ein Vogel war. Ein krächzendes Lachen und eine verlorene schwarze Feder am Boden, mehr nicht. Kavka heißt Dohle und fürchtet das Tageslicht.
 

2: Auch ich war am Grab von Franz Kafka. Fast immer, wenn ich in Prag bin, gehe ich auf den Neuen Jüdischen Friedhof. Nicht wegen des Schildes, das alle direkt am Eingang begrüßt: Dr. Franz Kafka, 250 Meter, ein Pfeil. Nein, aus ganz anderen Gründen. Aber das ist eine andere Geschichte. Der Friedhof liegt auf einem Hügel, weit draußen, in Umzingelung mehrerer Hauptstraßen und umklammert von zwei großen katholischen Friedhöfen. Olšanské hřbitovy. Rauschende Baumkronen, hohes Gras, Eichhörnchen und Eichelhäher. Und an den Grabsteinen so viele Namen von Menschen, die hier nie begraben werden konnten. So wie die Schwestern von Kafka zum Beispiel. Hier ist das Schweigen, das stumme Wegschauen von früher und heute besonders laut, meine Haut aus Glas.

Einige Hundert Meter weiter im Wohngebiet dann der Stolperstein für Milena Jesenská. Die in Ravensbrück ermordete Journalistin und erste Kafka-Übersetzerin gilt vielen immer noch als »Kafkas Freundin Milena«. Schatten berühmter Männer sind hartnäckig. Ihre Tochter, die mythenumwobene Underground-Poetin Jana Černá, ist auf dem katholischen Friedhof hier begraben. Eine Tochter von Kafka war sie nicht, auch wenn sie manch einer gern für eine halten mochte. Es passte zum Mythos. So wie auch dieses magische Dreieck am Rande der Stadt zum Mythos passt. Das Grab von Jana Černá suche ich lange, lege zarte blaue Blumen ins Gras und es passiert gar nichts. Dann fahre ich wieder nach Haus.


Martina Lisa war mal kreuzer-Literaturredakteurin, ist neben anderem vor allem aber Übersetzerin und Autorin. Sie wurde 1981 in der Tschechoslowakei geboren und vom Prag der achtziger und neunziger Jahre geprägt. Seit ihrem Studium lebt sie in Leipzig, von wo sie immer wieder ausschwärmt. Ihre beiden »Postkarten« entstanden im letzten Jahr während ihrer zweimonatigen Residenz als sächsische Stipendiatin des Prager Literaturhauses.


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