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Stadtleben

Für die Zukunft erinnern

Zum Stand der Erinnerungskultur in Leipzig und Sachsen

  Für die Zukunft erinnern | Zum Stand der Erinnerungskultur in Leipzig und Sachsen  Foto: Sandra Schubert

Im Mai-kreuzer stellten wir in der Reihe »Pointe des Lebens« die Tafel am Haus in der Lützner Straße 97–99 vor, die an die Ermordung von Klaus R. durch vier Neonazis 1994 in seiner Wohnung erinnert. Die Tafel unterscheidet sich erheblich von denen der Stadt Leipzig, die an bekannte Personen erinnern. Sie – wie auch die in der Karl-Liebknecht-Straße für Achmed Bachir – stammt vom Initiativkreis Gedenken. Der kreuzer fragte nach, seit wann, warum und wie der Initiativkreis Erinnerungskultur in Leipzig erlebt und begleitet.

Erinnern in Eigeninitiative

»Ein richtiges Gründungsdatum gibt es nicht«, heißt es aus der Initiative. Vielmehr habe es einige Anlässe gegeben, um sich zu engagieren – wie den gewaltsamen Tod des Wohnungslosen Karl-Heinz Teichmann im September 2008 und den rassistisch motivierten Mord an Kamal Kilade im Oktober 2010. Aus Besucherinnen und Besuchern von Gedenkveranstaltungen und Vorträgen entwickelte sich dann die Gruppe mit eigenem Ansatz. Der basiert auf den Recherchen von »Rassismus tötet – Leipzig« und dem Initiativkreis Antirassismus zu Opfern rechter Gewalt, deren Ergebnisse 2014 in der Ausstellung »Die verschwiegenen Toten – Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig seit 1990« zu sehen waren. Für die Initiative stellt »das aktive und kritische Erinnern an Todesopfer rechter Gewalt eine antifaschistische Praxis« dar. Aus den Beobachtungen der Debatten um den Gedenkort für Kamal Kilade fasste die Initiative den Entschluss, sich selbst um Gedenktafeln zu kümmern: »Wir fanden den Umgang mit den Betroffenen rechter Gewalt unwürdig. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, Gedenktafeln im öffentlichen Raum über Nacht aufzuhängen, die wir nicht bei irgendwem vorher ›erfragt‹ haben, damit Menschen auch in ihrem Nahumfeld darüber ›stolpern‹ und so zum Nachdenken gebracht werden. Das Gedenken legt den Finger in die Wunde und führt der deutschen Mehrheitsgesellschaft ihre tödliche Normalität vor Augen und wie das Versprechen auf Unversehrtheit eben nicht für alle gleichermaßen gilt.«

Solche Tafeln der Initiative gibt es bisher für Karl-Heinz Teichmann, Bernd Grigol, Achmed Bachir, Klaus R. und Nuno Lournço. »Uns ist es einerseits wichtig, im öffentlichen Raum auf die Alltäglichkeiten rechter Gewalt hinzuweisen – besonders, weil viele Taten auch in der Öffentlichkeit geschehen –, andererseits wollten wir uns nicht mehr länger mit der Untätigkeit und dem Desinteresse der Stadt und ihrer Behörden zufriedengeben«, erklärt der Initivativkreis gegenüber dem kreuzer. Es seien Kontakte zu den Angehörigen der Opfer entstanden und die Einsicht gewachsen, wie wichtig ein Ort ist, zu dem Betroffene gehen können.

Auf die Frage, wie eine produktive Erinnerungskultur in Leipzig aussehen könnte, verweist die Initiative darauf, dass sowohl von staatlicher als auch städtischer Seite Gedenken bisher dazu tendiere, »die Ursachen der Gewalt und die eigene Verstricktheit nicht zu benennen«. Der Initiative erscheine es so, »als gehe es der Stadt Leipzig und einigen Akteuren weniger darum, sich tatsächlich mit rechter Gewalt auseinanderzusetzen, sondern den ›Standort Leipzig‹ zu schützen und sich der eigenen Toleranz zu vergewissern. Das Image des ›weltoffenen und bunten‹ Leipzig soll keinen Schaden nehmen. In diesem Gedenken haben kritische Stimmen keinen Platz – egal, ob sie von Angehörigen, Hinterbliebenen oder antifaschistischen und antirassistischen Aktivist:innen kommen.« Zudem betont die Gruppe, dass Gedenken nicht in der Vergangenheit verharren dürfe, sondern auch Gegenwart und Zukunft sowie die gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick nehmen müsse. Gedenken könne nur dann glücken, wenn es als gesamtgesellschaftlicher Prozess verstanden würde. »Wir möchten andere Menschen und Initiativen dazu ermutigen, sich mit rechter Gewalt und ihren Folgen auseinanderzusetzen und selber aktiv zu werden – auch im unmittelbaren Wohnumfeld. Wir haben für uns entschieden, nicht mehr auf die Stadt Leipzig zu warten, sondern sind eigenständig aktiv geworden.«

Erinnerungskultur-Konzept der Stadt

Im letzten November verabschiedete der Stadtrat das Erinnerungskultur-Konzept für städtisches Handeln. Auf die kreuzer-Frage wie es damit nun konkret weitergeht, antwortete das Kulturdezernat, dass am 2. Mai die Koordinierungsstelle Erinnerungskultur ihre Arbeit aufgenommen habe. Bis zum Redaktionsschluss gab es darüber keine offizielle Meldung der Stadt, weder als Pressemitteilung noch als Information auf der Website der Stadt. »Noch in der ersten Jahreshälfte 2024« sei eine Akteurskonferenz geplant, eine Online-Plattform zur Erinnerungskultur laufe »auf Hochtouren«. Weiterhin heißt es vom Kulturdezernat: »Das Budget Erinnerungskultur 2023/2024 wurde für die Umsetzung von Vorhaben im Bereich Erinnerungskultur (z. B. Sporthistorische Route, Bücherspur, Ausstellung ›Zwischen Aufbruch und Abwicklung‹ im Stadtgeschichtlichen Museum) von städtischen und nichtstädtischen Akteuren eingesetzt oder gebunden. Über eine Verstetigung des Budgets muss in den Haushaltsverhandlungen 2025/2026 entschieden werden. Anregungen zu erinnerungspolitischen Themen aus Stadtgesellschaft und Stadtrat werden derzeit auf eine Einordnung ins erinnerungspolitische Gesamtkonzept überprüft. Zu den Themen Femizide, Bücherverbrennung und Durchgangsheime in der DDR liegen bereits oder in Kürze Gutachten vor, die mit den Stadträtinnen und Stadträten diskutiert werden.«

»Erinnern für die Zukunft der Demokratie«: Erinnerungskultur in Sachsen

Die Sächsische Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (SLAG) formulierte Mitte April ein Positionspapier zur Landtagswahl in Sachsen unter dem Titel »Erinnern für die Zukunft der Demokratie«. Darin erinnert SLAG – die 2018 gegründet wurde und seit 2020 eine Fachstelle in Leipzig betreibt – an die letzten Jahre, insbesondere an die »grundlegenden Veränderungen in der Erinnerungslandschaft Sachsens« auch innerhalb der Stiftung Sächsische Gedenkstätte. SLAG-Sprecherin Daniela Schmohl sagt über ihre Arbeit: »Die Erinnerungsarbeit steht vor vielen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Wir sehen, wie verbreitet Rassismus und Geschichtsrevisionismus sind, wir hören Warnrufe wie zuletzt das Statement der Landesschülervertretungen der Ostländer zu Rechtsextremismus an den Schulen. Politisch-historische Arbeit in den Initiativen und Gedenkstätten ist aktueller und gefragter denn je. Hinzu kommen Themen wie die digitale Transformation und die künftige Ausgestaltung der Erinnerungslandschaft in Sachsen. All das braucht die von uns benannten Rahmenbedingungen. Diese zu schaffen, dafür ist die Politik gefragt.«

Die SLAG hält drei wesentliche Punkte für die Erinnerungskultur in Sachsen fest: Erstens die Entwicklung eines erinnerungspolitischen Konzeptes für den Freistaat, zweitens die Sicherung der Finanzierung für Erinnerungskultur und drittens die Stärkung von Vernetzung und Forschung der einzelnen Akteurinnen und Akteure.

Das erinnerungspolitische Konzept für den Freistaat solle der kommende Landtag mit der neuen Landesregierung unter Einbeziehung der Akteurinnen und Akteure erarbeiten. Darin verankert sein sollten laut SLAG: die vielfältige Erinnerungslandschaft in Sachsen, die Ausweitung der Fördermöglichkeiten nicht nur für authentische Gedenkorte, sondern auch für Archive oder städtische Geschichtswerkstätten wie die AG Geschichte im Treibhaus Döbeln. Neben Projekt- und institutioneller Förderung seien auch Initiativförderung als Anschubfinanzierung, begleitende Beratungsangebote und eine verstärkte Zusammenarbeit mit Schulen wichtig. Ein Fachgremium mit paritätischer Besetzung von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik solle die Erstellung des Konzeptes begleiten.

Die Finanzierung der Erinnerungskultur müsse die untertarifliche Entlohnung in dem Bereich beenden, eine deutliche Erhöhung der Mittel sei daher ebenso nötig wie eine mittelfristige Finanzplanung. Die Vernetzung und Forschung zu stärken, sei besonders wichtig, weil die Erinnerungslandschaft vor allem durch kleinere Gedenkstätten mit wenig Personal und durch Vereine und Initiativen im Ehrenamt geprägt sei. Es bedürfe folglich der »verstärkten Vernetzung, geteilter Infrastruktur und kooperativer Verbundprojekte«. Wichtige Bausteine dabei könne die »Fachstelle NS-Erinnerungsarbeit und Demokratiebildung« bei der SLAG sein, die den Fokus auf Vernetzung, Weiterbildung und Beratung legt, sowie die »Landesservicestelle Lernorte des Erinnerns und Gedenkens«. Zudem könne eine zu schaffende »Fachstelle Erinnerungskultur digital« die Einrichtung und Vernetzung von digitalen Archiven begleiten. Außerdem schlägt die SLAG ein Kompetenzzentrum zur NS-Zwangsarbeit in Sachsen vor – angesiedelt bei der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig.
 

> Dieser Text erschien erstmals in der gedruckten kreuzer-Ausgabe 06/2024. Dort stand fälschlicherweise, dass die SLAG zur Stiftung Sächsische Gedenkstätten gehöre, was nicht der Fall ist. Außerdem kamen die im Absatz »Erinnerungskultur-Konzept der Stadt« zitierten Antworten der Stadt Leipzig nicht vom Kulturamt, wie es zunächst in diesem Text hieß, sondern vom Kulturdezernat.


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