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Stadtleben

Ein Rückblick aufs Fußballfieber

Was sich in einer Stadt bei einer Männer-Fußballeuropameisterschaft alles ändern kann – ein Kommentar

  Ein Rückblick aufs Fußballfieber | Was sich in einer Stadt bei einer Männer-Fußballeuropameisterschaft alles ändern kann – ein Kommentar  Foto: Tim Hard Media

»Eine pulsierende Innenstadt, schon vor dem Finale mehr als 300.000 Besucher und eine gut aufgestellte Notfall- und Katastrophenvorsorge – das ist die vorläufige Bilanz der Euro 2024 in der Host City Leipzig.« So lautete das Fazit zwei Tage vor dem Finale in Berlin der Stadt Leipzig auf einer Pressekonferenz. Demnach verliefen die drei Gruppenspiele und das Achtelfinale einwandfrei, wie auch der Betrieb der Fanzone auf dem Augustusplatz. Nur Regen und Gewitter hätten die Stimmung etwas getrübt. Jetzt wird gerechnet im Rathaus, um das Verhältnis von Ein- und Ausgaben zu berechnen. Die Zahlen dazu werde die Stadt im Herbst liefern, so Sport- und Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal. Jenseits der Euros bestünde auch ein großes Plus in Sachen Weltoffenheit, somit sieht Rosenthal die Stadt als gut gewappnet für das nächste Sportevent 2025: das Internationale Deutsche Turnfest.

Sitzen und Überwachen

Noch vor dem ersten Spiel fand im Zoo die Eröffnung einer Sitzbank statt. Dabei handelte es sich nicht um irgendein Sitzmöbel: Gestaltet vom Maler Neo Rauch, braun, mit zwei Fußbällen an den Seiten. Rauch wollte ursprünglich – wie er bei der Eröffnung erklärte – das Sitzmöbel lieber etwas RB-röter haben, das sei dann aber nicht mit dem Holzwerkstoff GCC gegangen. Dafür besitzt die Bank Solarpanels, leuchtet in der Dunkelheit und verbleibt auch nach dem Sportereignis noch im Zoo. Die Bank war Teil des »Stadions der Träume« im Zoo, wo sich auch die Ausstellung »Im Objekt der Staatsmacht. Die Überwachung und Kontrolle des Fußballs in Fotos des DDR-Sicherheitsapparates« befand.

Apropos Überwachung: Die gibt es auch in der Gegenwart. Im Vorfeld erhielten sogenannte Gefährder Briefe von der Polizeidirektion, die ihnen unterstellte, dass sie im Rahmen der EM »rechtswidriges Verhalten« während des Turniers planen und damit »das Ansehen der Bundesrepublik« besudeln: »Sie werden aufgrund ihres strafrechtlich relevanten Verhaltens im Zusammenhang mit vergleichbaren Veranstaltungen der gewalttätigen Fußballszene zugerechnet.«

Die Schreiben wurden auf Grundlage der höchst umstrittenen »Gewalttäter Sport-Datei« verfasst – die seit 30 Jahren existiert. Wie das Rechtshilfekollektiv der BSG Chemie Leipzig dazu erklärt, »werden seit vielen Jahren Menschen zusammengetragen, die in irgendeiner Art und Weise im Rahmen eines Fußballspiels ›auffällig‹ geworden sind. Unterschieden wird dabei kaum: Wildpinkler geraten ebenso in die Datenbank, wie Menschen, die im Zuge einer Identitätsfeststellung ihre Personalien vorzeigen mussten oder bei kaltem Wetter ihren Fanschal zu tief ins Gesicht gezogen haben.« Für Miriam Feldmann vom Rechtshilfekollektiv ist klar, »dass hier teils völlig unbescholtene und nicht vorbestrafte Fans durch die Polizei eingeschüchtert und als potenzielle Straftäter:innen markiert werden.«

Die Stadträtin und Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Die Linke) stellte eine Kleine Anfrage im Landtag, in welchem Rahmen die sächsische Polizei Anschreiben verschickte. Laut dem sächsischen Innenminister Schuster erhielten 223 Menschen ein solches Schreiben, begründet mit der Gewalttäter Sport-Datei und »konkreten Anhaltspunkten« – ohne Konkretes dabei zu benennen. In Leipzig betraf dies 122 Fans aus den Reihen des 1. FC Lokomotive, 75 von der BSG Chemie, 3 von RB Leipzig sowie 23 ohne konkrete Vereinszugehörigkeit. Aus den Reihen der BSG gibt es aktuell drei Feststellungsklagen beim Verwaltungsgericht Leipzig gegen das Schreiben.

Macht und Raum

In Zeiten der EM ergaben sich auch einige Veränderungen im städtischen Raum. Eine, die von vielen übersehen wurde, betraf das Alte Rathaus. Dort grüßte vom repräsentativen Balkon mit »Herzlich Willkommen« nicht die Stadt Leipzig, sondern RB samt Logo. Warum? Auf Anfrage des kreuzer schreibt die Stadt, dass das Banner gemeinsam mit einer sehr viel weiter oben hängenden Fahne der Stadt »die erfolgreiche gemeinsame Bewerbung« verbinde. »Nur dank der Unterstützung von RB (stellen für die EM-Zeit Stadion zur Verfügung, nehmen Umbenennung in Kauf) kann Leipzig Host City sein.« Für das Aufhängen des Vereinsbanners zahlte RB keinen Euro an die Stadt – Kritik seitens der Stadtgesellschaft gab es dazu nicht.

Wissen und Fußball

Es war nicht alles schlecht, denn die EM produzierte auch Wissen, um das Verhältnis von Fußball und Gesellschaft unter neuen Blickwinkeln zu betrachten. Die Gedenkstätte für Zwangsarbeit veröffentlichte anlässlich der EM auf ihrer Facebookseite eine Serie zum Thema Leipzig, Fußball und Zwangsarbeit. Dort ist zu erfahren, auf welchem Sportplatz Unterkünfte für Zwangsarbeitende entstanden – so etwa in Stahmeln. Den dortigen Platz mietete die Rüstungsfabrik Pittler Werkzeugmaschinen AG aus Wahren im Januar 1942 an. Hier, wo heute der Rugby Club Leipzig zu Hause ist, wurden mindestens 400 sowjetische Kriegsgefangene untergebracht. Zwangsarbeiter spielten auch gegeneinander – so etwa Flandern gegen die Niederlande am 11. April 1943 im heutigen Bruno-Plache-Stadion. Frauen und aus Osteuropa stammende Zwangsarbeitern war das Fußballspiel verboten.

Beim Verein Tura 1899, der im heutigen Alfred-Kunze-Sportpark in Leutzsch spielte, liefen per Sondergenehmigung niederländische und belgische Zwangsarbeiter im Team auf, sodass spätestens hier klar wird, dass der oftmals geäußerte Gedanke, dass Fußball unpolitisch bzw. Politik im Stadion nichts zu suchen hätte, eher einer geschichtsrevisionistischen Gedankenwelt entspringt als den historischen Gegebenheiten. So hat solch ein Turnier dann doch noch etwas Gutes: Wenn es Geschichten hervorbringt, die sonst im Ligaalltag oder bei Vereinsjubelfesten oft und gern vergessen werden.

 

> Für Interessierte am Thema empfiehlt Britt Schlehahn die Online-Ausstellung »Fußball und das KZ Buchenwald« und die bis zum 3. November zu sehende Ausstellung »Ganz Europa kickte in Berlin. Fußball und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus« im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Niederschöneweide .

> Bis zum 31. Juli läuft noch die Ausstellung »Masse, Macht, Fußball im Nationalsozialismus« im Haus des Deutschen Sports im Berliner Olympiapark.


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