Wühlen. Im Erdreich graben, grabend nach etwas suchen, schwer arbeiten. Wühlen. So heißt die sächsische Kleinstadt in Carolin Krahls Debütroman. Wühlen, das sind die Neunziger in Ostdeutschland. Das sind Brüche, Umbrüche und Kontinuitäten, geplatzte Träume, angestaute Aggressionen, das Überrollt-Werden und die Selbstermächtigung. Das sind Feminismus und Freiräume, aber auch psychische Instabilität, Gewalterfahrung und Schweigen. Wühlen ist eine Materialsammlung. Wühlen ist Arbeit.
Die Leipziger Autorin erzählt in Fragmenten und Notizen unterschiedlicher Art von der Wendezeit. Das Fragmentarische sei für sie »die richtige Form, um die Arbeit sichtbar zu machen«, sagt Krahl. Die Arbeit, die dahintersteckt, wenn wir die eigene Sozialisation, aber auch die Gegenwart verstehen wollen.
Erste Assoziationen: Baseballschlägerjahre, Männer-Literatur, aber auch Manja Präkels, Olivia Wenzel, Charlotte Gneuss, Anne Rabe. Es gibt offensichtlich noch sehr viel zu erzählen. Auch Krahl ging es um »die Bearbeitung einer Leerstelle, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Geschichtsschreibung.« Denn vieles – zum Beispiel die Frauenbewegung Ost – sei bis heute kaum oder nur in ersten Ansätzen bearbeitet worden. Und obwohl es bei Krahl klare biografische Berührungspunkte gibt – sie selbst ist Ende der Achtziger in der ostdeutschen Provinz aufgewachsen –, greift sie nicht zur derzeit gern genutzten Form der Autofiktion, sondern lässt ihre drei Figuren erzählen: die Schwestern Kris und Franz und ihre Jugendfreundin Ana, Tochter einer polnischen Vertragsarbeiterin. Da ist die gemeinsame Geschichte, an der sie sich bis heute abarbeiten und reiben, die sie trennt und zugleich verbindet. Und darum geht es ja: um Freundschaften, um langfristige Bindungen.
»Freundschaft und freundschaftliche Liebe ist mehr als Familie das Thema«, sagt Krahl. In den Notizheften der drei Figuren wird das Mosaik einer gemeinsamen Geschichte erzählt, oder besser: angerissen. Dazu kommen in geschickter Montage andere fragmentarische Texte: Gedichte, Dokumente, Recherchenotizen, Briefe, Nachrichten und drei Hörspielmanuskripte. Überhaupt spielen Radio und Musik eine wichtige Rolle – was auch metaphorisch zu lesen ist, als Sinnbild für den Roman, geht es da doch um Selbstermächtigung, darum, eine Stimme zu haben, sie sich zu nehmen, gehört zu werden. Zudem, so Krahl, steckt auch Hoffnung darin: »Aus diesem Äther kommt Hoffnung von Menschen, die politisch denken, sich einsetzen.«
»Wühlen« ermöglicht in fragmentarischer Form einen kritischen Blick auf die Gegenwart, geprägt durch die ostdeutsche Biografie. Wie es eben so passiert, wenn frau in einem riesigen Bottich der eigenen Geschichte und Herkunft wühlt: »Als ich aufwuchs und noch später, hatte es Zwischenräume gegebenen, Leergewordenes, Ausbauhäuser, Nischen eben; Erwachsenwerden heißt zuschauen, wie sie verschwinden.« Doch resignativ ist das Buch nicht. Was Halt und Hoffnung gibt, sind die trotz aller Schwierigkeiten verbindenden Beziehungen – feste Freundinnenschaften.
> Carolin Krahl: Wühlen. Leipzig: Trottoir Noir 2024. 298 S., 26 €
Transparenzhinweis: Carolin Krahl schrieb hin und wieder Texte für den kreuzer, zuletzt im logbuch (kreuzer-Sonderheft zum Bücherherbst 2023).