Im Windschatten des hiesigen Wahlkampfes begehen Ukrainerinnen und Ukrainer in Leipzig auch in diesem Jahr den Unabhängigkeitstag ihres Landes. Während sich die Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine weiter zuspitzen, gibt es an der Basis zahlreiche Initiativen für Frieden und Wiederaufbau. Der kreuzer sprach mit dem Leipziger Tim Bohse, der als Mitarbeiter des Vereins Kurve Wustrow in der Ukraine tätig ist und bereits 2022 im Interview seine Eindrücke aus dem Krieg schilderte.
Herr Bohse, Sie arbeiten in der Ukraine. Welche Stimmungen nehmen Sie nach zweieinhalb Jahren Krieg wahr? Sind die Stimmen für Verhandlungen und einen Waffenstillstand stärker geworden?
In der Ukraine ist der Krieg Teil des Alltags geworden. Die Menschen sind kontinuierlich enormem Druck ausgesetzt, sowohl individuell als auch als Gesellschaft. Eine der Folgen, die ich beobachte, sind Stimmungsschwankungen: Die Leute pendeln zwischen euphorischen Momenten und tiefer Melancholie. Es ist beeindruckend zu sehen, wie meine ukrainischen Kolleg:innen Strategien entwickelt haben, um mit diesen starken Emotionen umzugehen, die eigene Kraft zu bewahren und an ihren Zielen festzuhalten. Dadurch entsteht Resilienz.
Was Verhandlungen betrifft: Im Juli habe ich eine Umfrage gelesen, wonach etwa 44 Prozent der Ukrainer:innen Verhandlungen unterstützen würden. Allerdings wäre nur ein kleiner Teil – deutlich weniger als 10 Prozent – bereit, in diesen Verhandlungen substanzielle Zugeständnisse an Russland zu machen. Diese Zahlen deuten auf eine tiefe Sehnsucht nach Frieden hin, was nicht verwunderlich ist, gleichzeitig gibt es aber wenig Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, die der Ukraine auf lange Sicht schaden. Darüber hinaus herrscht verbreitetes Verständnis dafür, dass für Diplomatie zwei Parteien bereit sein müssen, miteinander zu verhandeln. Die russische Seite wird von den meisten Ukrainer*innen jedoch nicht als Akteur angesehen, der heute an einer diplomatischen Lösung zur Beendigung des Krieges interessiert ist.
Sachsen Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) forderte unlängst die Einstellung weiterer Ukrainehilfen, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) fährt einen prorussischen Kurs. Werden solche Stimmen in der Ukraine wahrgenommen und wie werden sie aufgenommen?
Diese Positionen im Rahmen des Landtagswahlkampfs haben keinen direkten Einfluss auf die deutsche Außenpolitik und sie werden deshalb von ukrainischen Journalist:innen kaum kommentiert oder beleuchtet. Es gibt gelegentlich Aufmerksamkeit für Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht, die als Putin-freundlich gilt. Kürzlich hat der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, einen längeren Kommentar dazu abgegeben und die Positionen des BSW harsch kritisiert.
Generell wird der Wahlkampf in den östlichen Bundesländern in der Ukraine kaum wahrgenommen. Ich kann mir aber vorstellen, dass Ukrainer:innen, die als Geflüchtete in Sachsen oder Thüringen leben, russlandfreundliche Äußerungen als Zumutung empfinden. Diese Positionen würden wahrscheinlich auch in der Ukraine ähnlich heftige negative Emotionen hervorrufen, wenn sie dort bekannt wären.
Ministerpräsident Kretschmer meinte vor Kurzem, dass Ostdeutsche ein besseres Verständnis für Russland hätten als Westdeutsche. Diese Einschätzung teile ich nicht.
Sie sind in einem Projekt des Vereins Kurve Wustrow aktiv. Was machen Sie dort, und was bedeutet Friedensarbeit im Krieg?
Über das Programm »Ziviler Friedensdienst« und entsendet vom Verein arbeite ich momentan in der Westukraine. Ab September werde ich voraussichtlich von Kyjiw aus tätig sein. Vor Ort bin ich internationaler Mitarbeiter bei einer ukrainischen Plattform von Organisationen, die sich auf die Bearbeitung von Konflikten in ukrainischen Kommunen konzentrieren.
Meine ukrainischen Kolleg:innen führen Konfliktanalysen durch, beraten Führungskräfte aus der Lokalverwaltung und der Zivilgesellschaft und vermitteln Fähigkeiten im Umgang mit Konflikten, Verhandlungsführung und Mediation. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf gesellschaftlichem Zusammenhalt und Zukunftsorientierung. Zum Beispiel unterstützen sie die Entwicklung einer besseren Jugend- und Kinderpolitik, stärken Jugendzentren und Jugendorganisationen, um auf die aktuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Krise angemessen einzugehen.
Als wir 2022 und 2023 in der Ukraine waren, haben wir starke Strukturen der Selbstorganisation von unten wahrgenommen. Sind diese Strukturen noch immer aktiv? Woraus schöpfen sie Kraft und Hoffnung?
Um die Ukraine zu verstehen, muss man erkennen, dass die Gesellschaft und die staatlichen Strukturen in hohem Maße auf gesellschaftlicher Selbstorganisation beruhen. Bereits vor Beginn des Krieges 2014, insbesondere während der Bürgerproteste auf dem Maidan, die als Revolution der Würde bekannt wurden, standen Selbstorganisation und Bürgerengagement im Mittelpunkt.
Diese Strukturen und die damit verbundenen Werte wie individuelle Würde und Demokratie prägen die ukrainische Gesellschaft bis heute. Viele der Initiativen und Vereine, die damals entstanden sind, sind weiterhin aktiv und tragen zur Aufrechterhaltung der Solidarität bei. Sie achten auf besonders gefährdete Personengruppen und sorgen für eine lebendige öffentliche Kommunikation. Diese zivilgesellschaftlichen Strukturen sind entscheidend, um die Krise, die der Krieg mit sich bringt, überhaupt bewältigen zu können.
Was wünschen Sie sich von der deutschen Debatte um den russischen Krieg gegen die Ukraine, und was können Menschen konkret tun?
Der 24. August, der Tag der ukrainischen Unabhängigkeit, steht bevor. Ich wünsche mir, dass Deutschland diesen Tag mit Achtung und Empathie für die ukrainische Gesellschaft begeht. Ich wünsche mir, dass ukrainische Stimmen in Deutschland – auch ganz konkret in Sachsen – viel stärker gehört werden. Gerade in Sachsen sollte es eine aktivere Auseinandersetzung mit den Argumenten der Ukrainer:innen in Bezug auf ihre Situation und den Krieg geben.
Ich habe es bereits erwähnt: In den östlichen Bundesländern gibt es oft das Gefühl, man verstehe den Osten Europas gut. Dabei wird Russland fälschlicherweise als Opfer amerikanischer Dominanz wahrgenommen. Dass die russische Führung im sowjetischen und später russischen Sicherheitsapparat sozialisiert wurde, sich im Verlauf der letzten 20 Jahre extrem radikalisiert hat und eine Gefahr darstellt, wird ausgeblendet. Außerdem gibt es im Osten Deutschlands immer noch zu wenig Austausch mit den ostmitteleuropäischen Nachbarn Polen und Tschechien. Dabei kann die Sichtweise dieser Länder auf die Krise der Demokratie und den Krieg der Ukraine als Grundlage für wertvolle Diskussionen dienen, wie wir gemeinsam diesen Herausforderungen begegnen können.
Haben Sie einen konkreten Wunsch im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen?
Klar. Ich bin Leipziger. Ich wünsche mir, dass die Menschen in Sachsen ihre Stimmen nicht an Parteien vergeben, die prorussische Positionen vertreten. Das wäre nicht im Interesse einer offenen politischen Kultur. Wenn wir wirklich Antworten auf die Frage finden wollen, wie dieser Krieg zu einem Ende kommen kann und wie die Zukunft unseres Landes aussehen soll, müssen wir uns von solchen Positionen abwenden.