»Menschen mit Migrationshintergrund und vor allem jene mit eigener Migrationserfahrung haben keine übergeordnete Lobby in Deutschland«, sagt Nathalie Adakh im Pressegespräch in einem Veranstaltungsraum am Leipziger Innenstadtring. Die Mitarbeiterin des Afghanistan Forums in Deutschland (AFGiD) ist eine von 14 Engagierten, die dieses Vakuum zumindest in Sachsen wieder schließen möchten. Denn nachdem der ehemalige Dachverband sächsischer Migrantenorganisationen (DSM) im diesem Frühjahr Insolvenz anmeldete und seine Arbeit einstellte, gründete die Gruppe aus Aktiven in der sächsischen Migrations- und Integrationsarbeit am vergangenen Samstag den neuen Landesverband sächsischer Migrant*innenorganisationen.
Grundsätzlich bleibt die Ausrichtung des neuen Landesverbandes gleich – viele Funktionäre und Funktionärinnen des ehemaligen Dachverbands sind wieder direkt oder beratend für das neue Bündnis aktiv. So setze sich der DSM explizit für das Wohl von migrantischen Organisationen im Freistaat ein. 66 solcher Initiativen hatten sich dem DSM seit 2015 angeschlossen. Nach dessen Auflösung rechnen die Initiatorinnen und Initiatoren aktuell mit etwa 30 beteiligten Vereinen, die den neuen Landesverband vorerst konstituieren und dabei »alltäglich die eigentliche Integrationsarbeit für Migrantinnen und Migranten in Sachsen leisten«, sagt Mit-Initiator Kanwal Sethi.
Pluralität von Migration abbilden
Auch für Nathalie Adakh ist klar: »migrantisches Engagement in Sachsen leistet einen wichtigen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt«. Die Vereine und Initiativen können »entscheidende Partner für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft« sein. Doch Fördermittelakquise, rechtlicher Schutz und politische Interessenvertretung seien Aufgabenfelder, die besonders kleinere Vereine mit wenigen Hauptamtlichen ohne einen Dachverband nur schwer abdecken könnten. Adakh bildet zusammen mit Emiliano Chaimite das Vorstandsduo des neugegründeten Landesverbands. Der ehemalige Co-Geschäftsführer des DSM erzählt, man wolle sich im Zuge der Interessenvertretung auch für eine »intensivere Vernetzung mit der sächsischen Gesellschaft« einsetzen. Im Pressegespräch zur Neugründung unterstreicht auch Bündnisberater Kanwal Sethi die gesamtgesellschaftliche Wirkungsabsicht des Verbandes. Gerade »in der Mitte der Gesellschaft« herrsche oft ein »zu eindimensionales Bild« von der Arbeit migrantischer Initiativen und Vereine. Es gelte dem Label einer »Flüchtlingsorganisation« entgegenzuwirken und die »überkonfessionelle, multiethnische und überparteiliche Ausrichtung des Verbandes unter Beweis zu stellen«, sagt Sethi. Beispielsweise hätten etwa 20 Prozent der Menschen in Leipzig eine Migrationsbiografie – nur gut 2 Prozent von ihnen aber gleichzeitig auch eine Fluchtgeschichte. Dem Landesverband gehe es darum, diese Pluralität abzubilden und grundsätzlich eine »migrantische Perspektive« im politischen und gesellschaftlichen Diskurs weiter zu etablieren.
Insolvenz des DSM wegen Fördermittel-Eklat im Sozialministerium
Dem ehemaligen Dachverband sei es gelungen, die Koalitionsparteien der letzten sächsischen Landesregierung von einer Zusammenarbeit zu überzeugen. Kanwal Sethi spricht von einem »engen und transparenten Vertrauensverhältnis« des DSM mit der Landespolitik, die jedoch die Neugründung des Landesverbandes mitverantwortete. Schließlich folgte die Insolvenz des Dachverbandes aus dem Fördermittel-Eklat im sächsischen Sozialministerium von Ministerin Petra Köpping (SPD). Im Herbst 2023 hatte der Landesrechnungshof »korruptionsgefährdende Strukturen« in der Fördermittelvergabe beanstandet, da man widersprüchliche Rollenverteilungen zwischen dem Ministerium und der verwaltenden Sächsischen Aufbaubank (SAB) erkannt habe. Das Sozialministerium habe so zu viel politischen Einfluss bei der Mittelvergabe genommen. Ein konkreter Korruptionsfall konnte nicht nachgewiesen werden, ebenso wenig wie persönliches Fehlverhalten Köppings. »Ja, es hat Verfahrensfehler gegeben. Die sind anerkannt und abgestellt worden«, sagte Köpping in einer Sitzung des Landtags Ende 2023.
Landesverband hofft auf stärkere Rückendeckung aus der Gesellschaft
Doch die SAB forderte bereits bewilligte Fördergelder aus den Jahren 2015 bis 2019 zurück, die in »integrative Maßnahmen« geflossen waren. Dem DSM wurden in diesem Zuge 153.000 Euro in Rechnung gestellt und weitere 490.000 Euro für 2024 gestrichen, erzählt Ex-Hauptgeschäftsführer Özcan Karadeniz. Karadeniz beklagt ein »unrechtmäßiges, klandestines Vorgehen« des sächsischen Rechnungshofes: »Man hat mit einer Wikipedia-Definition von Integration gegen die Förderung von Dachverbänden argumentiert«. Mit einem wissenschaftlichen Gutachten der TU Chemnitz wolle man die Unzulässigkeit der Rückforderungen nachweisen und die öffentlich erzeugte Aufmerksamkeit nutzen, um den neuen Landesverband zukünftig vor »ähnlichen Angriffen« zu schützen.
Fest steht, das neu-gegründete Bündnis muss zunächst ohne finanzielle Fördermittel auskommen – alle Beteiligten engagieren sich ehrenamtlich für den Verband. Auf unterstützende Gelder wolle man sich zukünftig nicht nur in der Landespolitik bewerben, kündigt Kanwal Sethi an und verweist unter anderem auf eine mögliche Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Özcan Karadeniz bremst und prophezeit einen »müßigen Weg«, auf dem es gelte »sich abzusichern und seine Hausaufgaben zu machen«. Damit spielt Karadeniz auf die expliziten Vorwürfe des Rechnungshofes gegen den ehemaligen DSM an. Die Prüferinnen und Prüfer hatten bürokratische Unstimmigkeiten und Unklarheiten in der Bezahlung der Beschäftigten angeprangert und die Seriosität ihrer Arbeit in Frage gestellt. Auch hier aber, so Karadeniz, weise das angekündigte Gutachten nach, dass es sich um »Lappalien aus vergangenen Zeiten« handele: »Die Menschen, die 2015 den DSM gründeten, waren aus erster Einwanderergeneration ohne Systemwissen«. Bemängelte Fehler seien immer wieder transparent und umgehend behoben worden. Der neue Landesverband soll nun von den Erfahrungen des DSM profitieren. Karadeniz, der dem Bündnis weiterhin in beratender Funktion zur Verfügung stehen wird, hofft jedoch auch auf eine stärkere zivilgesellschaftliche Rückendeckung für die Arbeit des Landesverbandes und der migrantischen Initiativen in Sachsen. Die Neugründung stehe »vor keinem geringeren Hintergrund als dem der Verteidigung unserer Demokratie«.