»Zu leben und zu sterben ist einfach, aber sehr schwer zu begreifen«, sagt Serhii (Name von der Redaktion geändert) nachdenklich und fährt sich unruhig mit der Hand über das Gesicht. Seine Gedanken gehen zum »Point Zero« an der vordersten Front, an der sich die Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg wehrt. Dort gibt es nur das Jetzt und die Soldaten sind permanent mit dem eigenen Tod konfrontiert. Er spricht über die Kluft, die viele Soldaten empfinden, wenn sie von der Front zurück in ihr gewohntes Umfeld kommen. »Der Krieg hinterlässt Spuren, auch bei mir«, sagt Serhii, als er gerade auf Heimatbesuch ist. »Ich hoffe, dass ihr so etwas nie erleben werdet.«
Als Teil einer Gruppe aus vorwiegend in Leipzig lebenden Menschen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen haben wir im Oktober 2024 eine selbstorganisierte Reise in die Region Transkarpatien in der Westukraine unternommen, um uns mit lokalen Organisationen, Kulturinitiativen und Schulen zu vernetzen. Für einige von uns war es die erste Reise in die Ukraine, andere haben bereits seit längerem Kontakte dorthin, etwa durch Freiwilligendienste, Jugendaustausche oder persönliche Beziehungen. Transkarpatien ist im Vergleich zum restlichen Territorium der Ukraine deutlich sicherer, es gab dort nur sehr wenige Angriffe auf die Energieinfrastruktur. Der entspannt wirkende Alltag in Städten wie Uschhorod oder Mukatschewo steht deshalb in keinem Vergleich zu ostukrainischen Städten wie Sumy oder Charkiw, die nahezu täglich von Russland beschossen werden. Auf unserer Reise treffen wir Menschen und Organisationen, die den Menschen in ihrem Land auf unterschiedliche Weise helfen, den Krieg zu bewältigen und eine Perspektive für die Zukunft nach dem Krieg schaffen wollen.
Eine Perspektive für die Jugend
Serhii ist Betreiber eines Clubs in Uschhorod und lebt dafür, in seiner Stadt einen unkonventionellen Ort zur Verfügung zu stellen, wo man Konzerte hören und sich selbst auf der Bühne ausprobieren kann. Seit er in der Armee ist, werden die Veranstaltungen von jungen Leuten organisiert, alle Einnahmen gehen als Spenden an die Militäreinheit, in der Serhii kämpft. Die Unterstützung der Armee ist aus seiner Sicht essentiell, denn sie bekämpft russische Drohnen und Bomben, die täglich von Russland vor allem auf Städte in der Zentral- und Ostukraine abgeschossen werden und Menschen töten. Serhii ist Musiker und spricht begeistert von Bands aus der Region, die wir uns unbedingt anhören sollten. Wenn man ihm zuhört, versteht man, warum er für sein Land kämpft: Es schmerzt ihn, dass so viele junge Menschen aufgrund des Krieges ins Ausland geflohen sind. Laut den Vereinten Nationen (UN) haben seit Kriegsbeginn über 6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer das Land verlassen. Serhii hofft, dass sie irgendwann zurückkehren und sich in der Ukraine eine Zukunft aufbauen.
»Was sind eure Pläne für die Zukunft? Habt ihr schon Ideen, was ihr beruflich machen wollt?«, fragen wir auf Englisch und Deutsch eine Gruppe von Jugendlichen in einer Schule in Turya Remeta im Umland von Uschhorod. Die Schülerinnen und Schüler überlegen, man sieht ihren Gesichtern an, dass sie nach Vokabeln suchen. Eine 15-Jährige antwortet schließlich: »Ich möchte ein guter Mensch werden. Das ist alles.« Zustimmendes Nicken der anderen. Und uns verschlägt es einen Moment lang die Sprache. Der Kontakt zu einer engagierten Lehrerin hat ermöglicht, dass wir vier Schulen im ländlichen Raum besuchen konnten. Die Jugendlichen waren sehr schüchtern und zurückhaltend, als wir in die Klassenräume kamen. Durch Gruppenspiele mit einfachen Worten auf Deutsch und Englisch konnten wir das Eis ein Stück weit brechen und mit ihnen in den Austausch kommen. Für die meisten war unser Besuch die erste Begegnung mit Menschen aus dem Ausland. Regionen jenseits großer Städte wie Lwiw und Kyjiw sind bei internationalen Besucherinnen und Besuchern oft nicht auf dem Radar – schon gar nicht jetzt im Krieg. Dabei können Schulpartnerschaften gerade im ländlichen Raum sehr viel bewegen – sei es durch Sachspenden wie Laptops oder Beamer für den Unterricht, sei es durch den persönlichen Austausch und den Aufbau von Kontakten.
Über 3 Millionen Binnengeflüchtete
Bei einem Treffen mit der NGO “Youthspace” erfahren wir, dass sich seit der russischen Großinvasion 2022 die Einwohnerzahl von Uschhorod zeitweise verdoppelt haben soll, weil Menschen aus den unsicheren Gebieten der Ostukraine in weniger gefährdete im Westen flüchteten. Insgesamt gibt es laut UN über drei Millionen Binnengeflüchtete in der Ukraine. Dieser Bevölkerungszuwachs bringt natürlich große Herausforderungen mit sich, etwa steigende Mieten oder Wohnungsmangel. Doch das Team von Youthspace ist bemüht, das Positive darin zu sehen: Die Stadt werde vielfältiger und nicht zuletzt brächten die Zugezogenen ja auch neue Geschäftsideen mit, die der Region gut täten. Vor allem die Jugend sei wichtig, denn sie würde immer kritisch nachfragen und neue Antworten auf aktuelle Herausforderungen finden. Jugendliche brauchen »mehr eigene Räume« - dieser Wunsch spiegelt sich schon im Namen der NGO wider. Seit 2014 organisiert das kleine Team mit circa zehn Mitarbeitenden internationale Jugendbegegnungen, Trainings für Sozialarbeitende und Geflüchtete und versucht, die in Uschhorod gebliebenen und die zugezogenen jungen Menschen zu integrieren und ihnen Möglichkeiten zur Gestaltung und Mitbestimmung zu geben. Einen dieser Räume, den Youthhub, konnten wir besuchen. Er liegt im Erdgeschoss eines Studierendenwohnheims und wird von Studierenden selbst betrieben. Sie können hier Workshops besuchen, selbst Veranstaltungen organisieren oder sich zum Brettspielabend treffen. Der Raum wird gerne genutzt, er ist in Uschhorod der erste dieser Art.
Neben unseren Treffen mit Akteurinnen aus den Bereichen Kultur und Bildung haben wir Einblicke in die Situation von Binnengeflüchteten in der Ukraine erhalten. »Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat nicht 2022, sondern bereits 2014 begonnen«, betont Iryna (Name von der Redaktion geändert), eine Mitarbeiterin der von Binnengeflüchteten aus dem Donbass 2014 gegründeten Organisation East SOS, die heute vor allem von Kyjiw und Uschhorod aus arbeitet. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre ist aus einem kleinen Team von Aktivistinnen und Aktivisten eine NGO mit über 200 Mitarbeitenden geworden, von denen viele selbst zwei Mal flüchten mussten: 2014 aus den damals von Russland besetzten Gebieten Donezk und Luhansk in der Ostukraine oder von der Krym und 2022 erneut aus Regionen, die von der weiter nach Westen vorrückenden russischen Armee zerstört wurden oder häufigem Beschuss ausgesetzt sind. Die Organisation beschafft und verteilt humanitäre Hilfsgüter, hat bisher 80.000 vor allem ältere Menschen mit Mobilitätseinschränkungen aus von Russland besetzten oder umkämpften Gebieten evakuiert, dokumentiert Kriegsverbrechen und engagiert sich im Bereich Menschenrechtsbildung.
»Je weiter weg wir von Osteuropa sind, desto sicherer sind wir«
Sehr viele Ressourcen der ukrainischen Zivilgesellschaft werden seit der russischen Vollinvasion im Februar 2022 dafür benötigt, die akute Not von Menschen zu lindern. Gleichzeitig sind Initiativen entstanden, die sich mit umfassenderen politischen und kulturellen Fragen befassen.
»Je weiter weg wir von Osteuropa sind, desto sicherer sind wir. Wir arbeiten an einem Konzept für ein Mitteleuropa, das Symbol für Frieden und nachhaltige Entwicklung ist«, sagt Dzvenislava Bilonoh vom Institute for Central European Strategy (ICES), die wir in einem Uschhoroder Restaurant treffen. Was der »Osten« ist, ist eine Frage der Perspektive: Aus der Sicht des ICES handelt es sich nicht nur um einen geografischen, sondern vor allem sozio-kulturellen und politischen Raum, aus dem über Jahrhunderte hinweg ein bestimmtes Verständnis von Individuum und Gesellschaft erwachsen ist. Die Ukraine gehöre von ihren historischen Wurzeln zu Mitteleuropa, dessen kulturelle Prägungen sich deutlich von denen Russlands unterschieden. Dies bezieht sich etwa auf die bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition städtischer Selbstverwaltung. Das ICES agiert als Think Tank, der politische Entscheidungsträgerinnen und -träger berät und adressiert mit Veranstaltungen die Öffentlichkeit. Außerdem betreibt das von dem Schriftsteller Andriy Lyubka geleitete Institut eine Lokalzeitung und ein Nachrichtenportal, das sich zum Ziel gesetzt hat, Fake News und Desinformation über die Region aufzudecken.
Transkarpatien (ukr. Zakarpattia) grenzt an vier EU-Länder. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Region ein Teil von Österreich-Ungarn, danach gehörte sie zur Tschechoslowakei, wurde 1939 von Ungarn besetzt und nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion angeschlossen. Von den 100.000 transkarpatischen Juden haben der deutsch-ukrainischen Historikerkommission zufolge nur 10.000 bis 15.000 den Holocaust überlebt. Zakarpattia ist kulturell äußerst vielfältig: Dort gibt es zahlreiche Minderheiten, unter anderem Ungarn, Deutsche, Slowaken und Roma, die ihre jeweiligen Sprachen und Kulturen pflegen. Immer wieder gibt es Versuche von russischer, aber auch ungarischer Seite, vermeintliche Konflikte zwischen Minderheiten in der Region und dem ukrainischen Staat anzuheizen, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu erschüttern. Dies geschieht zum Beispiel über gezielt verbreitete Fake News per SMS oder Soziale Medien. Unsere beiden Gesprächspartnerinnen betonen, dass es essentiell ist, die kulturelle Vielfalt des Landes in Europa zu bewahren.
Die Woche in der Ukraine ließ uns beeindruckt zurück. Wir haben mehr bekommen, als wir geben konnten. Was nehmen wir mit? Die Zivilgesellschaft in der Ukraine ist extrem stark. Der Euromaidan zwischen Ende 2013 und Anfang 2014 erfasste breite Bevölkerungsschichten, die ausgehend von den Massenprotesten in Kyjiw gegen ein korruptes und autoritäres Regime auf die Straße gingen und so Reformen anstießen. Die Erfahrung des Maidans und der damit verbundene gemeinsame Kampf für Demokratie und Freiheit hat Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, Landesteilen und Altersgruppen geprägt. Da der Krieg das Land nach außen abschottet und internationaler Austausch massiv eingeschränkt ist, ist es wichtig, Kontakte in die Ukraine aufrechtzuerhalten. Der Wunsch danach ist generationsübergreifend da und die Türen der Menschen in der Ukraine sind offen. Schulpatenschaften sind möglich, Städtepartnerschaften sollten intensiviert werden. Spenden werden nach wie vor dringend benötigt und auch das Zuhören, Lesen und Erinnern: Wir dürfen die Menschen in der Ukraine nicht vergessen!