Am 10. April 1945 fliegen die Alliierten den letzten Großangriff auf Leipzig. Dabei werden neben Verkehrsknotenpunkten in Engelsdorf, Mockau und Wahren auch Unterkünfte von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern getroffen (s. S. 26). Aus dem Südosten und dem Westen nähern sich die 9. Panzerdivision sowie die 2. und 69. Infanteriedivision der US-Armee. Am selben Tag wird Hans von Ziegesar als Kommandant der Stadt von Hans von Poncet abgelöst, der die Stadt nicht widerstandslos an die Alliierten übergeben möchte. Ihm stehen 750 Mann eines Infanterie-Ausbildungs- und Ersatzbataillons zur Verfügung, von denen 500 noch keine Ausbildung erhielten, sowie 250 Soldaten der Kraftfahrtruppe und acht Volkssturm-Bataillone mit rund 2.300 Mitgliedern.
Die Gestapo transportiert am 12. April 52 Gefangene aus der Riebeck- und Wächterstraße nach Lindenthal auf einen Exerzierplatz. Sie werden hier erschossen und in einem Bombentrichter verscharrt – darunter die Widerstandskämpfer Paul Küstner und Alfred Kästner sowie eine Freundin der Familie Goerdeler. 1954 wird hier der »Ehrenhain der 53« angelegt, der seit 2004 unter Denkmalschutz steht.
Einen Tag später werden die KZ-Außenlager in der Stadt aufgelöst (s. S. 26). Für den Großteil der Inhaftierten geht es auf den sogenannten Todesmarsch, zurück bleiben die Verletzten und marschunfähigen Häftlinge.
Am 18. April gelangen die Truppen der 2. und der 69. Infanteriedivision der US-Armee mit rund 28.500 Soldaten in die Stadt. Fünf US-Soldaten sterben an der Kreuzung Karl-Heine-/Zschochersche Straße durch den Angriff per Panzerfaust von zwei Jugendlichen aus dem Volkssturm – die von Hitler im Oktober 1944 initiierte letzte Verteidigungseinheit aus zivilen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren –, die im Gegenangriff von der US-Armee getötet werden. Seit 2020 erinnert ein Memorial an der Kreuzung daran – initiiert durch die Schaubühne, das Capa-Haus und das Stadtgeschichtliche Museum.
Am Straßenbahnhof Angerbrücke und dem heutigen Capa-Haus finden weitere Gefechte und Festnahmen von Deutschen durch die US-Armee statt.
Am anderen Ende der Stadt wird von 12.30 bis gegen 18 Uhr das Massaker von Abtnaundorf verübt. Seit 1958 erinnert ein Obelisk daran.
Während in Teilen der Stadt die US-Armee mit weißen Bettlaken und Blumen empfangen wird, versucht ein »Kraut-Major«, wie ihn Margaret Bourke-White in ihrer Autobiografie nennt, ohne Übersetzer dem Leutnant der US-Armee zu erklären, dass Wilhelm von Grolman, der Polizeipräsident von Leipzig, die Stadt übergeben möchte. Nach einem Treffen mit diesem stellt sich heraus, dass er »gar nicht die Macht hatte, die Niederlegung der Waffen der SS-Truppen oder überhaupt des militärischen Personals zu veranlassen, seine Kapitulation aber das Angebot enthielt, dass mehrere tausend Angehörige der bewaffneten und ausgebildeten Polizeikräfte kooperieren würden, um die Bevölkerung ruhig zu halten.« Da die Polizeiuniform allerdings schlecht von der Wehrmachtuniform zu unterscheiden ist, werden die Polizisten zu ihrem Schutz – damit sie nicht von den GIs ins Kreuzfeuer genommen werden – in den Kasernen eingeschlossen. In der Stadt selbst wird weitergekämpft.
150 Mitglieder des Volkssturms versuchen, unter dem Kommando der örtlichen NSDAP- und SA-Führung das Neue Rathaus zu verteidigen, und verschanzen sich im Gebäude. Die US-Armee benötigt drei Anläufe, um es am 19. April einnehmen zu können. Hier finden die Fotografen Robert Capa und David E. Scherman sowie die Fotografinnen Margaret Bourke-White und Lee Miller die Toten – wie die Familien von Oberbürgermeister Alfred Freyberg und die des Kämmerers Kurt Lisso. In der Ausgabe des Life-Magazins vom 14. Mai 1945, in der auch Capas Bildfolge aus dem Capa-Haus enthalten ist, sind die Aufnahmen von Bourke-White zu sehen, die Lisso und seine Familie tot im Büro zeigen.
Die US-amerikanische Militärregierung erlässt am 19. April 1945 um 16.30 Uhr eine Bekanntmachung an die Zivilbevölkerung. Darin steht unter anderem, dass sich die Menschen nicht weiter als sechs Kilometer von ihrer Wohnung entfernen dürfen. Die Wohnungen dürfen zwischen 18 und 7 Uhr nicht verlassen werden. »Ansammlungen von mehr als fünf Personen in der Öffentlichkeit oder in Privatwohnungen zu Diskussionszwecken sind verboten. Ansammlungen vor Lebensmittelausgabestellen oder vor öffentlichen Ämtern haben sich sofort aufzulösen, falls irgendwelche Unruhen entstehen.« Verboten sind zudem der Gebrauch und das Tragen von Fotoapparaten und Feldstechern.
Bis zu Hitlers Geburtstag am 20. April verschanzt sich der Stadtkommandant Hans von Poncet mit 100 bis 200 Mitgliedern der Wehrmacht, des Volkssturms und der Hitlerjugend am Völkerschlachtdenkmal. Bei den Kämpfen sterben sowohl US-Soldaten als auch Nazi-Deutsche.
Nach diesen letzten Kampfhandlungen ist Leipzig befreit. Zu der Zeit leben 585.000 Menschen in der Stadt – 145.000 weniger als vor dem Krieg. 14.000 Menschen jüdischen Glaubens sind in Konzentrationslagern ermordet wurden. 6.000 Menschen starben bei Kriegshandlungen in der Stadt. Von 225.000 Wohnungen sind 38.000 vollständig zerstört, 100.000 beschädigt. 64 Prozent der Unigebäude, 80 Prozent der Messehäuser, Museen, Theater, Kinos und Schulen waren ebenfalls zerstört.
Das Nationalkomitee »Freies Deutschland« (NKFD), das sich als kommunistische Widerstandsgruppe im Herbst 1943 in Leipzig gegründet hatte und auch nach der Verhaftungswelle im Juli 1944 (mit den Todesurteilen für Georg Schumann, William Zipperer und andere) weiter bestand, stellt für den Historiker Werner Bramke »das vermutlich größte Antifa-Komitee in Deutschland« dar. Es hat einen erheblichen Anteil an der Nichtverteidigung der Stadt und baut eine eigene Struktur nach dem 18. April auf. Dies wiederum führt zu Konflikten. Am 28. April wird das NKFD verboten, 300 Mitglieder werden kurzzeitig inhaftiert. Bis Ende Mai 1945 bildet sich der Antifaschistische Block, der ehemalige Mitglieder von KPD und SPD vereint und die Entnazifizierung unter dem von der US-Militärregierung eingesetzten OBM kritisieren wird.
Am Dittrichring 24 richtet die Militärregierung ihren Sitz ein. Eine Gedenktafel am heutigen Gebäude der Stasiunterlagenbehörde erinnert seit 2011 daran. Ein weiterer Standort der US-Armee ist das heutige Ariowitsch-Haus. Das Gelände kaufte die Ariowitsch-Stiftung 1930 für ein Israelitisches Altersheim. Am 19. September 1942 wurden die mehr als hundert Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Angestellten des Altersheims nach Theresienstadt deportiert. Danach übernahm die Gestapo, das Gebäude.
Am 23. April 1945 wird der Rechtsanwalt Wilhelm Johannes Vierling (1889–1956, ehemals DVP, nun parteilos) als Oberbürgermeister der Stadt Leipzig eingesetzt. In einem öffentlichen Aufruf an die Bevölkerung der Stadt heißt es: »Das ganze politische und geistige Leben Deutschlands seit 1933 hat mit unheimlicher Folgerichtigkeit zu dieser Entwicklung geführt. Ohne diese Erkenntnis und ohne den unbeugsamen Willen, uns zu wandeln, kann und wird die Welt uns nicht wieder Vertrauen schenken. Ohne diese Wandlung werden wir aber auch selbst nicht die sittliche Kraft zum Wiederaufbau unseres öffentlichen Lebens besitzen.«
Die Opfer des Massakers von Abtnaundorf werden am 27. April auf dem Südfriedhof beerdigt. Dabei sind viele Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter sowie Vertreter der US-Armee.
Bis Ende Mai entnazifiziert die US-Armee die Leipziger Stadtverwaltung: Von einigen Tausend überprüften Angestellten werden 805 entlassen. In den Reihen der Polizei sind noch viele NSDAP-Mitglieder und auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen dauert es bis November, um Posten neu zu besetzen.
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