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Kultur

Von Dekonstruktion über Fleiß zur fragilen Heimat

Der Jubiläumsrundgang auf der Spinnerei, einige Impressionen

  Von Dekonstruktion über Fleiß zur fragilen Heimat | Der Jubiläumsrundgang auf der Spinnerei, einige Impressionen  Foto: Britt Schlehahn

20.000 Besucherinnen und Besucher kamen am Wochenende zum Jubiläumsrundgang der Galerien auf dem Spinnereigelände. Vor zwanzig Jahren - im Frühjahr 2005 -  eröffneten hier die Galerien Eigen+Art, Kleindienst, Maerz (heute Galerie Reiter), Dogenhaus (heute Jochen Hempel), Aspn und die Produzentengalerie B2 ihre Räume. Für die Premiere des Rundgangs auf dem Gelände entlang der Spinnereistraße wurde damals im Vorfeld mit 2.000 Menschen gerechnet, letztlich waren es 10.000.

Schon zehn Jahre zuvor zogen auf das Gelände der 1884 gegründeten Baumwollspinnerei Künstlerinnen und Künstler wie Hans Aichinger, Peter Bux, Nina K. Jurk, Kaeseberg, Rosa Loy, Neo Rauch, Stefan Stößel, Michael Triegel, weil die industrielle Produktion nach dem Ende der DDR immer weniger Platz beanspruchte. 1997 eröffnete mit dem Kunstraum B2 ein Ausstellungsort, der unter anderem den Studierenden und Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) mehr Sichtbarkeit in der Stadt gab. 2002 veranstaltete die in München beheimatete Stiftung Federkiel das Symposium »Wie Architektur sozial denken kann«, in dessen Folge die Halle 14 als gemeinnützige Ausstellungsinstitution entstand, die heute auf mehr als 70 Ausstellungen zurückblicken kann, wie der ehemalige Künstlerische Leiter Frank Motz zum Galerierundgang erklärte.

Mit dem Einzug von Künstlerbedarf Boesner, der Eröffnung von Archiv Massiv im Sommer 2004 sowie dem Umzug der Galerie André Kermer im Herbst 2004 aus der Innenstadt auf das Gelände, war der Zuzug der anderen Galerien fast zwangsläufig. Heute stellen sie neben den fast 100 Ateliers, Architekturbüros, Startups und Call Center einen Wirtschaftsstandort im Leipziger Westen dar (siehe kreuzer 5/2025).

Die sächsische Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) entsandte ein Grußwort zum zwanzigjährigen Rundgangs-Jubiläum: »Die Spinnerei Leipzig hat sich aus einem ehemaligen Industriestandort zu einem wichtigen Ort des künstlerischen Schaffens in Sachsen entwickelt und steht damit beispielhaft für den kreativen Wandel nachindustrieller Räume. Heute ist sie ein bedeutendes und international anerkanntes Zentrum für zeitgenössische Kunst und Kultur. Die Spinnerei zeigt die Kraft von Kunst in einer sich wandelnden Gesellschaft und steht maßgeblich für kreative Köpfe, deren Arbeit weit über die Grenzen der Stadt und des Freistaates hinausstrahlt.« Wobei sich die Frage stellt – welche der hier beheimateten Köpfe Sichtbarkeit erlangen und welche nicht? Daher ein kurzer Überblick, was in den Galerien und Kunsträumen auf dem Spinnereigelände aktuell zu sehen ist.

Dekonstruktion

Ein kleines Schild mit der Aufschrift »Gabi« weist den Weg zum gleichnamigen Kunstraum im Haus 2 auf der Spinnerei. Benannt nach der Wiener Galeristin Gabriele Senn (1960-2023) zeigt hier Michael Riedel, der seit 2017 die Klasse Malerei und Grafik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst leitet, eine Version seiner 2005 in New York in der Galerie David Zwirner organisierten Ausstellung »Neo«. Vor Riedels Ausstellung war dort von Neo Rauch die Schau »Renegaten« zu sehen. Riedel arbeitete mit dem Material zur Ausstellung wie Text und Fotografien, Werbematerial, Einladungskarten und einer Wortanalyse des Textes »Painters, Germans, and other Renegades« in alphabetischer Reihenfolge von der Kunstwissenschaftlerin Christine Mehring. Neben diesen Informationen, wie eine Ausstellung Gestalt annimmt und einen Raum bestimmt, waren die Unterschriften im Gästebuch neben den Gesprächen während des Abbaus der Rauch-Bilder zu lesen.

Zwanzig Jahre später befindet sich auf der Spinnerei in der Mitte des Raumes ein Modell des damaligen Ausstellungsraums im Maßstab 1:100. Im größten Raum liegt ein Stapel mit Riedels Katalog von 2005. An den Wänden hängen Rahmen mit Druckbögen des Katalogs. Die Informationen zu der Ausstellung ergeben so die unterschiedlichen Bilder beim Betrachtenden, wie das Werk als Ware existiert.

Ortsspezifik

In der Galerie B2 zeigt Max Brück seine erste Einzelausstellung als Mitglied Produzentengalerie (siehe kreuzer 5/2025). Die Installation mit dem Titel »Prägung« bezieht sich auf die Geschichte der Baumwollspinnerei. Aus alten Textilien lässt der Künstler in einer selbstgeschaffenen Anlage Medaillen mit der Aufschrift »Sammelfleiß« entstehen. Zudem kann in der Galerie die »B2-Edition 2025« erworben werden.

Spinnerei-Rundgang

Vom Leben im Leipziger Westen erzählen die Bilder von Doris Ziegler schon seit vielen Jahrzehnten. In ihrer Einzelausstellung »Nicht ohne einander« bei Laetita Gorsy sind die Gemälde in der für Ziegler markanten sachlichen Schonungslosigkeit zu sehen. Das große Spektrum reicht hier von Stillleben aus den frühen Neunzigern über Stadtlandschaften hin zu den Selbstporträts, die ihr Werk schon immer kennzeichnen. Das titelgebende Bild aus dem Jahr 2023 zeigt ein Doppelporträt als Künstlerin und Frau.

Zeit zum Schauen

In der Halle 14 sind 17 Positionen von unterschiedlichen Jahrgängen des Leipziger Kunstfeldes zu sehen. Dabei platziert Kurator Michael Arzt einige Positionen, die schon längere Zeit nicht mehr zu sehen waren wie Stefan Stößels Landschaften von Verpackungsmaterialien. Rozbeh Asmani hat mit »72 Colourmarks« 2017 die Farben von Unternehmen – angefangen von Kraft Foods bis zu Tiffany and Company in gleichgroßen gerahmten Felder organisiert. Was sehen wir, wenn wir uns die Farben anschauen, die nicht nur Farben sind? Welchen Bewegungen folgen wir bei Farb- und Linienverläufen in den Arbeiten von Matthias Weischer, die am IPad entstanden? In der Ausstellung finden nicht nur zur Museumsnacht am 10. Mai Führungen statt, sondern auch Lecture-Performances von Falk Haberkorn zu seiner Arbeit »Watzmann«.

Am 17. Mai wird der Leipziger Künstler Hartwig Ebersbach 85 Jahre alt. Die Ausstellung bei Jochen Hempel eröffnet den Geburtstagsausstellungsparcours, dem sich die Kunsthalle Talstraße in Halle mit »Versuch einer Deutung« (bis 31. August) sowie die Kunsthalle Dessau mit der Schau »Aus den Seiten einer Fibel« (bis 28. Juni) anschlossen. Ebersbach, der von 1959 bis 1964 sein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) absolvierte, schloss es mit einem Diplom bei Bernhard Heisig ab – der ersten Malereiklasse nach 1945. An der HGB leitete er von 1979-83 die Klasse für Experimentelle Kunst. Leider werden diese Aktivitäten mit den zahlreichen Aktionen interdisziplinär zwischen bildender Kunst und Musik liegend gern vergessen, wenn Schlagwörter wie Leipziger Schule fallen. Zentral bei Jochen Hempel ist die Installation »Hermann« zu sehen. Die Fraktur Skulptur, die sich aus persönlichen und gesellschaftlichen Erinnerungen zusammensetzt, entstand 2024.

Schlichter Realismus

Eine Auswahl ihres Werkes der letzten 25 Jahre zeigt die Keramikerin Rosi Steinbach im Spinnerei Archiv Massiv und manifestiert ihre solitäre Position im Kunstfeld. Ihre an Luca della Robbia (um 1400 Florenz – 1481 Florenz), der erstmals Glasurverfahren auf Terrakotta-Kunstwerken anbrachte, geschulten Darstellungen wirken auf dem rauen Kellerregal wie eine kleine Leipziger Kunst-Walhalla.

2017 erklärte Steinbach dazu: »In meinem Depot sind die Objekte aufbewahrt und warten darauf, dass jemand sie entdeckt und mit sich, mit seiner Zeit und zueinander in Beziehung bringt. Die Damen und Herren in den Regalen machen sich dazu ihre Gedanken, und die Besucher können gern die eine oder andere Büste auswählen und ihrerseits über die Person nachsinnen, die da abgebildet wurde.«

Bei genauerem Hinblicken werden nicht nur vielen Details sichtbar, sondern auch die unterschiedlichen Größen. In der für Steinbach typischen detailreichen Gestaltung wirken die Porträtbüsten einerseits sehr ernsthaft-repräsentativ, andererseits fehlt es nicht an Humor.

Spinnerei-Rundgang

Und der kommt auch bei Thaler Originialgrafik nicht zu kurz. Unter dem Label Saxonia Flagship Group sind hier Arbeiten von Beate Düber, Jan Kummer, Nina Kummer, Lotta Kummer und Till Kummer aus Chemnitz zu sehen.

Die im Kreis stehenden Kronkorkenmausfiguren verweisen auf die aus Mangelwirtschaft entstandenen Konstruktionsalternativen, um Ikonen aus der westlichen Welt selbst entstehen zu lassen. »Heimat Ensemble« nannte Jan Kummer die 2007 geschaffene Skulptur, die auf dem zum europäischen Kulturhauptstadtjahr entstandenen Plastikpfad »Purple Path« (siehe kreuzer 1/2025) in Gersdorf eine größere Varianate als »Heimat Ensemble II« fand. Beate Dübers Serie »Plattenbauten«, 2024 entstanden, weist auf die Unterschiede und Nuancen hin, die Plattenkonstruktionen durchaus beinhalten können.

Spinnerei-Rundgang

Im Projektraum Thaler schräg gegenüber zeigt Jan Kummer unter der Überschrift »Heimatstube« Minitatur-Lebenswelten – auch gern Puppenstuben genannt – auf fragilen Tischkonstruktionen stehend. So arg martialisch auch die Innenschrift an der Fassade klingen, Sicherheit bietet derlei nicht. Alles wie im wirklichen Leben.
 

› Michael Riedel, »20 Jahre Neo [New York, 2005]«, Kunstraum Gabi, bis 3. Juli

› Max Brück, »Prägung«, Galerie B2, bis 7. Juni

› Doris Ziegler, »Nicht ohne einander, Galerie Laetita Gorsy, bis 5. Juli

› »How to look at…«, HALLE 14 – Zentrum für zeitgenössische Kunst, bis 10. August

Führungen: 10. Mai zur Museumsnacht: 19 und 21 Uhr, 28. Mai, 17 Uhr

»Watzmann/ Vor einem Bild«, Lecture Performance mit Falk Haberkorn: 22. Mai um 19 Uhr und am 14. Juni um 16 Uhr

› Hartwig Ebersbach, »Kaspar Hermann«, Galerie Jochen Hempel, bis 7. Juni

› Spinnerei archiv massiv

› Rosi Steinbach, »Werkschau 2000 – 2025«, Spinnerei Archiv Massiv, bis 7. Juni

› »Saxonia Flagship Group Network Event«, Thaler Originalgrafik, bis 7. Juni


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2 Kommentar(e)

Josef Golipp 12.05.2025 | um 11:04 Uhr

Herzlichen Dank für den Spinnerei-Rundum-Blick. Ist gut geschrieben und regt zum Besuch der einzelnen Ausstellungen an. Josef Filipp

Alexander Wagner 14.05.2025 | um 10:04 Uhr

Danke für die interessanten Einblicke - ich werde die erwähnten Austeilungen besuchen.