»Tonstörung« – Das Weiße Rauschen der 21. Euro-Scene ist verebbt, die in schreiendem Gelb-Grün gehaltenen Plakate wurden nach 25 Vorstellungen an den zehn Spielstätten abgenommen. Nicht wenige Theatergänger werden nach dem Marathon durchatmen. Vielleicht auch, weil sich nicht alles so spannend anschaute, wie man gehofft hatte.
In dieser Hinsicht fiel gerade die eher maue Festivaleröffnung im Gewandhaus auf: Ein recht braves und oberflächliche Tanzstück konnte nicht begeistern und ein Soloperformer stand schlichtweg im falschen Raum. Dass die Euro-Scene auch bessere Verknüpfungen von Inszenierung und Ort vorzuweisen hatte, zeigt unsere Bewertung in aufsteigender Kritikerskala.
Putzig: »E.I.O.«
Was passiert, wenn man einfach eine Horde Leute auf die Bühne loslässt, auf der Werkmaterialien aus Bastelladen und Baumarkt herumstehen? Das war bei E.I.O. zu bewundern, das Josef Nadj (ohne das Stück je gesehen zu haben, wie er später anmerkte) per Carte Blanche einbrachte. Die drei Performer Dragana Bulut, Maria Baroncena und Eduard Gabia wagten das Experiment. Wer wollte, konnte arbeiten, während der Rest der Zuschauer dann die besten Performer auszeichnete. Es war zwar durchaus drollig zu sehen, welche kreativen Energien 30 durchschnittliche Euro-Scene-Zuschauer bei Basteleien entwickeln. Was dort geschah, war aber auch an Belanglosigkeit nicht zu überbieten. So sehen Kindergartenspiele für Erwachsene aus. Da nutzte es auch nichts, dass ein offenbar frustrierter Zuschauer irgendwann alles in einer Spontan-Performance niederwalzte. Dieser Abend ist daher wohl nur mit einem Wort adäquat zu beschreiben: putzig.
Energetisch: »La, pulemetschick – Ich, das Maschinengewehr«
Budenzauber der gröberen Art lieferte das SounDrama Studio aus Moskau in der Schaubühne Lindenfels ab. »Ich, das Maschiengewehr« (Text: Juri Klawdijew, Regie: Wladimir Pankow) ist eine krachende Meditation über den Krieg. Ausgehend von den Erfahrungen des Opas, der gegen die deutschen ausrücken musste, über Kommentare von Vietnam bis Georgien geht es schließlich zu den Schlachten der Jugendbanden auf den Straßen. Dazwischen tanzen Putin, Obama & Co. zu Balalaikaklängen und den tontechnischen Zaubereien von Alexander Pleninger. Und immer wieder erklingt das Leitmotiv: »Hotel California«. Alles ist ineinander verwoben, ja: positiv verworren und wird mit der ungeheuren Energie der neun Darsteller auf die Bretter gebracht. Am Ende waren die Zuschauer hübsch durchgeblasen und versuchten, die verschiedenen Kraft-Ausdrücke aneinander zu puzzeln. Doch kohärente Bilder sind anders und das ist dann eben große Kunst.
Subkutan »Jerk«
Das Solo-Figurentheater-Stück von Gisèle Vienne (Grenoble) geht absolut unter die Haut. Während die Regisseurin bei der Euro-Scene 2008 mit ihrer plumpen Puppen-Aufstellung »Kindertotenlieder« und ihr Sujet morbider Subkultur nur vorführte, ist ihr mit »Jerk« ein faszinierende Stunde Theater gelungen. Der Spieler Jonathan Capdevielle sitzt auf einem Stuhl im absolut leeren Raum, nur ein Kassettenrekorder steht neben ihm. Die Bühne wird Gefängnis: Capdevielle stellt sich als Mittäter von mehr als einem Dutzend Sexualmorde vor. Zunächst mit Handpuppen, dann nur mittels Stimmenverstellen gibt er so grausames Zeugnis vom Tod verschiedener junger Männer. Irritiert der lapidare Umgang mit dem dunklen Stoff anfänglich, so entsteht alsbald ein starker Sog, der absolut fesselt. Wie hier intensive Schauspielkunst in höchster Reduktion das Psychogramm eines Mörders zeichnet, ist ein Erlebnis.
Grandios: »Sho-bo-gen-zo«
Die neue Inszenierung von Josef Nadj, seiner Mittänzerin Cécile Loyer sowie den beiden Musikern Joëlle Léandre (Kontrabass) und Akosh Szelevényi als Percussionist und Bläser war eine der poetischen Perlen dieser Euro-Scene. Ausgehend von alten japanischen Masken ertanzt und erspielt das künstlerische Team in einer großartigen Ensembleleistung neue Welten. Szenische Suchen enden in überraschenden Funden und der äußerst klar gesetzte, aber dennoch absolut fließende Tanz zaubert noch so manches feingliedrig humoristische Detail aus dem Kimono-Ärmel. Nadj und Loyer (als Samurai und sein Diener) überzeugen als spielerisches Duo und nutzen die Klanvorlagen von Léandre und Szelevényi für harmonisch-witzige Höhenflüge durch theatergeschichtlich grundierte Anreißungen. Ein Spiel ohne Worte, die einem auch danach fehlen.
Erwartbar gut: »Testament« und »Sideways Rain«
Mit »Testament« vom Kollektiv She She Pop macht die Festivalleitung alles richtig und übertrumpft Centraltheater-Intendant Hartmann, in dem sie in Leipzig ein Stück bringt, das zum Theatertreffen eingeladen wurde. Zu Recht. Die Inszenierung wurde bundesweit bejubelt und auch in Leipzig funktionierte der Dialog zwischen Vätern und Töchtern hervorragend. Gutes Timing, schön gebaute, intelligent gebrochene Dramaturgie und ein Höchstmaß an Authentizität, nach der alle immer so gieren. Und was »Testament« international ist, ist der Abschluss »Sideways rain« für den internationalen Tanz. Eine perfekte Choreographie, die nur darauf setzt, dass die 13 Tänzerinnen und Tänzer immer wieder von links nach rechts über die Bühne gelangen. Eine Stunde ästhetische Hochspannung. Hut ab vor Choreograph Guilherme Botelho und der Compagnie Alias und danke für einen wunderbaren Theaterabend.
Spannend: »Das beste deutsche Tanzsolo«
Es war ein gutes Jahr für das Tanzsolo. Das Finale war großartig besetzt, stilistisch vielfältig und sogar der Humor, sonst beim Tanz eher selten, wurde gleich zweimal Platz auf dem Runden Tisch, der dieses Mal im Ringcafé stand, eingeräumt. Am Ende setzen sich Profi-Performer gegen Semi-Profis und Hip-Hop durch. Der erste Preis an ging an Christine Borch, die mit ihrem Solo »the body that comes« (»Der Körper, der kommt«) eine sehr berührende Arbeit über Last und Freiheit ablieferte. Der zweite Preis und der Publikumspreis gingen an die Koreanerin In-Jung Jun, die mit ihre Zimbelperformance bereits in der Vorrunde das Publikum begeisterte. Der dritte Preis ging an die zirkuserprobte Lotte Müller, die eben jene Prise Humor einbrachte, die Tanz so oft abgeht. Eine gute Wahl von Publikum und Jury, auch wenn sicher noch einige andere preiswürdig gewesen wären. Aber die Plätze auf dem Treppchen sind leider begrenzt.