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Kultur

»Hallo, uns gibt es noch«

Gerlinde Rohr, die langjährige Leiterin des Sportmuseums, geht pünktlich vor Weihnachten in den Vorruhestand

  »Hallo, uns gibt es noch« | Gerlinde Rohr, die langjährige Leiterin des Sportmuseums, geht pünktlich vor Weihnachten in den Vorruhestand

Im Interview mit dem kreuzer spricht sie über ihr Lieblingsobjekt, die schönsten und schlimmsten Erlebnisse im Sportmuseum.

Bereits vor drei Jahren berichtete Gerlinde Rohr im Interview des Monats (kreuzer 6/2015) über die sehr wechselvolle Geschichte des Museums, das seit 1991 geschlossen ist. Als sie Ende August im lange geplanten Urlaub war, überbrachte Ministerpräsident Michael Kretschmer einen Fördergeldbescheid über zwei Millionen Euro für die Neueröffnung des Sportmuseums. Zuvor eröffnete das Stadtgeschichtliche Museum im Mai die große Sonderausstellung zur Leipziger Sportgeschichte, die zeigte, welche Schätze das Sportmuseum beherbergt, die so viel über die Stadtgesellschaft erzählen. Zudem beschloss der Stadtrat vor einem Jahr, dass die 2002 vom Sportmuseum entwickelte Sportroute zu 22 historischen Stätten umgesetzt werden soll. Noch 2018 sollen die ersten zwei Tafeln eröffnet werden: an der Turnhalle in der Leplaystraße für das bürgerliche Turnen und am Eingang des Fockebergs als ersten Fußballplatz in der Stadt.

kreuzer: Frau Rohr, Ihre letzten Arbeitswochen brechen an. Wie würden Sie Ihre Zeit im Sportmuseum beschreiben?GERLINDE ROHR: Ich bin im Museum gelandet, obwohl das nicht mein Berufswunsch war. Aber ich habe sehr schnell gemerkt: Museumsarbeit ist hochinteressant, nie langweilig und hört nie auf. Man trifft Menschen aller Altersgruppen und aller Interessen. Auch wenn ein Sportmuseum auf Sport reflektiert, sind die Menschen sehr unterschiedlich, besitzen unterschiedliche Blickwinkel auf den Sport. Diese Differenziertheit ist das Reizvolle an der Arbeit. Deshalb empfand ich die Zeit im Sportmuseum sehr reizvoll und interessant.

kreuzer: Wenn wir vom Sportmuseum sprechen, gibt es eigentlich mehrere. Das erste offizielle Sportmuseum, das sich von 1977 bis 1991 im Hauptgebäude des damaligen Zentralstadions befand, danach das geschlossene Museum an unterschiedlichen Orten, das der Öffentlichkeit durch Sonderausstellungen immer wieder ins Bewusstsein zurückkehrte. In der Zeit wuchs das Museum auf bis heute ungefähr 90.000 Objekte.ROHR: Reichlich 95.000. Es kommen jährlich einige tausend hinzu.

kreuzer: Besitzen Sie Lieblingsobjekte?ROHR: Ein Lieblingsobjekt ist ganz schwer zu definieren. Ich liebe den Großteil unserer Sammlung, unsere großen Sportgeräte finde ich außergewöhnlich, auch weil sie in dieser Größe ein Privatsammler zu Hause nicht aufbewahren kann. Sie sind der Gefahr ausgesetzt, dass sie bei Umzügen vernichtet werden. Wir bewahren viele außergewöhnliche Dinge auf. Unsere Sammlung zu Sportkleidung etwa, die wir ausdifferenzieren in allgemeine Sportkleidung, Olympiakleidung, Turnfestkleidung mit vielen – wie auch in den anderen Sammlungsbeständen – sehr interessanten Stücken.Besonders liebe ich eine Kleinplastik: »Ballspielerin«. Ihre Form stammt aus der Werkstatt des Phidias in Olympia. Willi Daume (1913-1996, war von 1961 bis 1992 Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, Anm. d. Red.) stiftete sie der Stadt Leipzig für Mädchenhandball bei seinem Besuch 1995. Das ist so ein wunderschönes, kleines Objekt mit einer ungeheuren Ausstrahlung. Es erzählt eine tolle Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart.

kreuzer: Wie viele Jahre sind Sie jetzt am Sportmuseum?ROHR: 36 Jahre.

kreuzer: Gab es in den 36 Jahren – einschließlich Systemwechsel – ein besonders schönes und ein besonders schlimmes Erlebnis oder Ereignis?ROHR: Ich fange mal mit dem Schlimmen an. Es betrifft die Wende. Nicht die Veränderung der Gesellschaft war schlimm, sondern dass wir einpacken mussten. Wir hätten gern die Chance gehabt, die Ausstellung neu zu gestalten. Stattdessen gingen wir in Lagersituationen, die Zukunft der Sammlung lag völlig im Ungewissen. Unmittelbar nach der Wende gab es den Antrag an den Stadtrat, dass die wertvollen Sammlungsteile zugunsten der Kultur verkauft werden können und die nichtwertvollen Objekte könnte man vernichten. Das waren ganz schlimme Zeiten.Diese Ungewissheit, was aus der Sammlung wird. Die Menschen hatten uns die Dinge anvertraut, ein Museum sammelt Zeitgeschichte egal welche politischen Verhältnisse herrschen. Das finde ich ja auch das Reizvolle an der Arbeit, dass man sich damit auseinandersetzen kann anhand authentischer Objekte. Deshalb halte ich die authentischen Objekte und nicht deren Interpretationen über die Zeit so wichtig.Der Förderverein Sächsisches Sportmuseum Leipzig hat uns den Rücken gestärkt. So überstanden wir die Umzüge, das Einpacken der Sammlung von anfänglich 35.000 Objekten, beim zweiten Umzug waren es 70.000 Objekte und jetzt sind wir bei 95.000 angekommen.Trotz dieser schlimmen Zeit haben wir immer aus allen Interimsunterkünften das Beste gemacht. Wir haben in der Lagerhalle in Thekla zum ersten Mal unsere Großgeräte fotografiert, um die Sammlung auch fotografisch zu dokumentieren. Dabei hat uns unser Förderverein sehr unterstützt und viele andere Menschen, die bis heute an das Museum glauben und der Meinung sind: Ein Sportmuseum gehört zu Leipzig und nicht irgendwo anders hin.

kreuzer: Und das schönste Erlebnis?ROHR: Das schönste Erlebnis war für mich, dass wir in dieser schwierigen Zeit 1992 eine Sonderausstellung organisierten. Das Sportmuseum veranstaltete immer Ausstellungen während der Olympischen Spiele, die viele Besucher anzogen. Dann kamen die Olympischen Spiele 1992. Erstmals traten Athleten aus der ehemaligen DDR und BRD gemeinsam als Mannschaft auf. Es waren also besondere Olympische Spiele. Wir haben gesagt, dass wir dieses Ereignis nicht vergehen lassen können, ohne eine Ausstellung zu präsentieren – auch um an das Sportmuseum zu erinnern: »Hallo, uns gibt es noch.« Wir wollten etwas Besonderes organisieren. Unter dem Titel »OlympART. Diplome und Medaillen seit 1896« zeigten wir weltweit das erste Mal in dieser Gänze seit Beginn der Olympischen Spiele diese für die Spiele typischen Ehrengaben und Erinnerungsstücke – von Sportlerinnen und Sportlern aus Ost und West, von Sommer- wie Winterspielen, sowie aus den unterschiedlichen Sportarten. Für die Jahre, in denen Deutschland nicht startete, hatten wir Repliken aus dem Olympischen Museum in Lausanne.Dass die Ausstellung zustande kam, dass wir das geschafften hatten – das war für mich ein besonderes Erlebnis. Die Stadt gab uns dafür keinen Cent. Das Sportmuseum stand ja auf der Abwicklungsliste. Der noch junge Fördervereine brauchte einige Jahre, um die entstandenen Schulden abzuzahlen.Diese Ausstellung zeigten wir im Neuen Rathaus und unser Oberbürgermeister (Hinrich Lehmann-Grube, Anm. d. Red.), der doch sehr angezweifelt hat, ob ein Sportmuseum in Leipzig sinnvoll ist, musste jeden Tag auf dem Weg zu seinem Büro vorbeigehen.1993 organisierten wir eine Ausstellung unterstützt von der SPD-Bundestagsfraktion und der Friedrich-Ebert-Stiftung zu 100 Jahren Arbeitersport in Deutschland, wo wir kühn gesagt haben: Leipzig – Wiege und Zentrum des deutschen Arbeitersports.Wir hatten immer das Glück, dass uns Menschen unterstützten. Das hat uns all die Jahre Kraft und den Mut gegeben, auch Dinge anzugehen, die vor allem aus finanziellen Gründen zuerst einmal sehr utopisch erschienen.Ich möchte aber noch das interessanteste Erlebnis nennen: Im Juli 1985, die DDR wollte die diplomatischen Beziehungen zum Iran verbessern und man hatte festgestellt, dass einer der Stellvertreter des Ministerpräsidenten für den Sport verantwortlich ist. So wollte man über die sportliche Schiene die Beziehung verbessern. Wir waren das einzige Sportmuseum in der DDR und ein Besuch des iranischen Sportverantwortlichen wurde geplant. Ich war damals stellvertretende Direktorin und unser Direktor war mit seiner Familie im Urlaub an der Ostsee. So sollte ich diese Führung übernehmen. Zuerst war es gar nicht möglich, dass die Führung eine Frau macht. Ich habe ordentlich Anweisungen bekommen, aber während der Führung – wir hatten ja auch ein Kapitel über Werner Seelenbinder – taute endlich die Delegation auf. Der Dolmetscher hat von sich aus gesagt: »Das ist hochinteressant, wir haben auch einen iranischen Nationalhelden im Halbschwergewicht, der vom früheren Regime umgebracht worden ist.«Was manchmal ein Eisbrecher sein kann! Das kann man vorab überhaupt nicht einschätzen. Auf jeden Fall war es für mich ein besonderes Erlebnis.

kreuzer: Was bleibt?ROHR: Oh, was bleibt? Ich denke, dass für mich die Gewissheit bleibt, etwas für den Sport in der Stadt getan zu haben. Es gibt im Leipziger Sport enorm viele Menschen im Ehrenamt, die dafür sorgen, dass wir eine breite Vereinsbasis besitzen und so viele Menschen Sport treiben können – und das seit 1845. Diese Leistungen zu dokumentieren, das macht zumindest keine andere Institution. Irgendwann werden alle alten Unterlagen weggeworfen.Sowohl die Spitzenleistungen im Sport als auch die der Ehrenamtlichen zu dokumentieren und das anhand von authentischen Objekten – dass wir uns dieser Dokumentation besonders widmeten, in der Zeit, in der wir keine Öffentlichkeit hatten, das ist besonders der Verdienst meines Kollegen Wolfgang Metz und mir und einiger Ehrenamtlicher, die uns bei dieser zeitaufwändigen Arbeit unterstützen. Ich denke, dass wir das Sportmuseum immer im Gespräch gehalten haben – das bleibt. Alle Konzepte, die wir gemacht haben, ob für Ausstellungen oder für das Museum, die sind für mich eine Basis. Wenn die Nachfolger bereit sind, das noch einmal zu lesen, dann finden sie mit Sicherheit Anregungen, die man für ein künftiges Sportmuseum verwenden kann. Mein Kollege ist noch ein paar Jahre da – wir haben diese Konzepte immer im großen Einvernehmen miteinander erarbeitet.Vor allem, dass sich bei uns in den Objekten das Wirken der Menschen widerspiegelt. Das halte ich für sehr wichtig. Geschichte wird von Menschen geschrieben. Es ist schön, wenn man Objekte mit Geschichten besitzt, die weit über den Menschen hinausstrahlt. Das war auch immer das besondere Anliegen beim Sammeln, dass die Objekte besondere Geschichten erzählen.

kreuzer: Was macht Gerlinde Rohr ohne das Sportmuseum?ROHR: Ich freue mich zuerst einmal, dass ich mehr Zeit für meine Familie haben werde, für meine Enkelin, die 1.500 Kilometer weit weg wohnt, zu erleben wie sie sich entwickelt. Mein Mann und ich haben viel miteinander vor, werden Kulturveranstaltungen besuchen – wie oft hatte ich eine Einladung und dann saß ich im Museum, weil dies und jenes noch zu erledigen war. Das möchte ich alles genießen. Der Sportgeschichte bleibe ich trotz alledem der Sportgeschichte treu. Mit vielen Arbeitskollegen im deutschsprachigen Raum bin ich vernetzt, vor allem in der deutschen Arbeitsgemeinschaft für Sportmuseen, Sportarchive und Sportsammlungen. Das ist eine sehr schöne Sache. Ich bin zwar nicht mehr Zweite Vorsitzende, sondern nur noch im Vorstand, aber dadurch bleibe ich mit den Kollegen und dem Thema verbunden, werde auf Fachtagungen auftreten, sodass es mir mit Sicherheit nicht langweilig wird.Die Themen kann ich mir nun auswählen und ich hoffe, dass es mir dann auch leichter fällt »Nein« zu sagen.

kreuzer: Sie werden nichts vermissen?ROHR: Als wir vor reichlich zwanzig Jahren hier im Objekt (im Keller des Olympiastützpunktes, Am Sportforum, Anm. Red.) ein Zuhause fanden, war das ein Fortschritt und ein Gewinn. Der Großteil der Sammlung konnte zusammengeführt werden. Wir konnten an der Sammlung intensiv arbeiten. Das ist das Positive an diesem Objekt. Wenn man aber dann über zwanzig Jahre im Keller hinter Gittern sitzt, wo dann auch mal eine schwarze Wand vom Schimmel befreit werden muss, wo der Teppich das Rollen mit dem Bürostuhl verhindert, die Computerverbindung viel zu langsam ist, wo das Grundlegende für normale Arbeitsbedingungen aus meiner Sicht nicht mehr gegeben ist, dann...Das ist schlimm und deshalb bin ich auch müde. Am meisten habe ich in diesen Räumen den ständigen Kontakt zu anderen Menschen vermisst. Die Sonderausstellungen oder -veranstaltungen waren immer so kleine Flashlights. Das Wissen, was sich angehäuft hat, dass man das an Andere weitergeben konnte. Deshalb mussten einige Besucher bei der jüngsten Ausstellung (»In Bewegung. Meilensteine der Leipziger Sportgeschichte«, Anm. Red.) manchmal auch zwei Stunden Führung aushalten. Das möge mir verziehen sein. Ich bin ein kommunikativer Mensch, deshalb habe ich gerade das hier so vermisst.


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