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Politik

Schändung

Der Gedenkort Josephstraße 7 wurde vor dem Gedenktag an die Novemberpogrome zerstört

  Schändung | Der Gedenkort Josephstraße 7 wurde vor dem Gedenktag an die Novemberpogrome zerstört

Eine massive Glasplatte liegt seit dem 9. November 2021 auf dem Rasen. Sie ist Teil des Ensembles der 2012 eröffneten Erinnerungsstätte in der Lindenauer Josephstraße, nahe der Lützner Straße gelegen. Sie gehört zu den besonderen Orten des Gedenkens an jüdisches Leben in der Stadt. Hier deutet ein Türrahmen auf einer Wiese ein Haus an, Glasplatten aus gepanzertem Sicherheitsglas stehen auf dem Areal, das ganz bewusst als Lücke erscheint und so voller Geschichten ist.

Vor dem 9. November beräumte der Verein Gedenkort Josephstraße das Areal. Die Wiese wurde gemäht, ein umgefallener Baum entfernt. Kurz darauf stießen Unbekannte die Glasplatte im vorderen Bereich um und rissen sie aus der Verankerung. Es ist davon auszugehen, dass es eine gezielte Tat war, um den Gedenkort zu zerstören.

Inhalt der gläsernen Gedenktafel ist ein Brief. Es handelt sich um ein Schreiben aus den USA an die Leipziger Stadtverwaltung. Es ist nicht irgendein Brief, sondern ein historisches Dokument, das den Gedenkort initiierte. Amalia Schinagel, geboren als Amalia Reiter, hochbetagt in New York lebend, erhielt 1998 von der Stadt Leipzig die Zahlungsaufforderung für die Grundsteuern des Hauses in der Josephstraße 7. Es war zu der Zeit ein Schatten seiner selbst und wie die Gebäude in der Gegend völlig heruntergekommen. 1991 hatte Amalia Schniangel das Haus als Erbin zurück erhalten ohne zu wissen, in welchem Zustand sich das Haus befand. Im Brief schildert sie ihre Lage und ihre Erinnerungen an den Ort. »Unser Haus war im Oktober 1938, wo wir verschleppt wurden, im besten Zustand, die Wohnungen waren vermietet, die Geschäftsräume auch, und meine Eltern haben jeden Monat Geld von den eingegangenen Mieten erhalten.«

Im Oktober 1938 wurde sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder in der sogenannten von Heinrich Himmler angeordneten »Polenaktion«, in der aus Polen eingewanderte Juden verhaftet und an die polnische Grenze verbracht wurden, nachts von hier abgeholt und in der Folge abgeschoben: »Als ich im Oktober 1938 am Abend von meinem Buerau nach Hause kam, wurde ich und mein Vater von der Deutschen Polizei in Leipzig nachts 3 Uhr geweckt, ‚angezogen und mitkommen’ das waren die einzigen deutschen Worte die sie sprachen, und sie marschierten uns mit nichts in unseren Händen zum Hauptbahnhof, zuerst zu der Polizeiwache und wurden wie wilde Tiere nach Polen abgeschoben unter Morddrohungen […] und jetzt verlangen Sie Steuern von mir und meinen beiden Neffen? Wo ist die Gerechtigkeit? Bitte nehmen Sie das Haus zurück und geben sie uns bitte, was sie wollen. Ich habe keine Zukunft mehr und kann nicht mehr kämpfen.«

Ihr Vater Isidor Isaak Reiter war seit 1924 Besitzer des Hauses und arbeitete als Rauchwarenhändler am Brühl. Nach 1938 zeigt das Adressbuch als Eigentümer »Ungenannt« an. 2006 erfolgte der Abriss des Hauses. Drei Jahre später sollte die Fläche zwangsversteigert werden. Dies konnte verhindert werden. 2010 gründete sich der Verein Gedenkort Josephstraße 7 – auch als Reaktion auf das seit 2008 in der Odermannstraße gelegene NPD-Büro – und eröffnete 2012 diesen Ort des Erinnerns. Auf dem Gehweg davor erinnert zudem ein Stolperstein an Ida Jetty Lotrowsky, die mit ihrer Familie seit 1913 im Haus wohnte. Sie musste nach 1939 in das Judenhaus in die Nordstraße 11 ziehen, wurde 1942 nach Riga deportiert und starb am 25. November 1944 im KZ Stutthof.

Der Bildungsverein Parcours erarbeitete einen Film über die Familien Reiter und Lotrowsky: »Sie bringen mich weg. Ich weiß nicht wohin« beinhaltet die vielen Geschichten, aber auch die Leerstellen zu jüdischem Leben in der Stadt, die der Verein mit politischer Bildungsarbeit und Jugendlichen verbindet.

Bei der Filmvorführung zum Gedenkort im Sommer erklärten Israelis, die in der Stadt wohnen, wie wichtig ihnen dieser Ort ist, weil sein Umgang mit der Vergangenheit so besonders ist. Besonders daran ist das unauffällige, das Erzählen wie jüdische Menschen verschwinden mussten, was aus ihnen wurde und wie damit umgegangen werden kann, wie sich die Stadtgesellschaft ihrer Vergangenheit stellt. Die Zerstörung dieses Ortes vor dem 9. November kommt einer zweiten Vertreibung gleich. Der Verein bereitet derzeit eine Anzeige vor.

Unweit von Lindenau wurde zudem ein provisorischer Stolperstein in der Rolf-Axen-Straße 4 entfernt und im Müll entsorgt, wie die Initiative »Kleinzschocher ist bunt« meldet.

BRITT SCHLEHAHN


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1 Kommentar(e)

Simon 18.11.2021 | um 08:13 Uhr

Dieser Vorfall reiht sich, als krassester Fall, in eine lange Liste von Vandalismus und Respektlosigkeit gegenüber dem Gedenkort ein. Bereits am Anfang wurden die Glasstelen beschmiert und es gab augenscheinlich Versuche sie umzutreten (so mussten sie wieder gerade gestellt und das Betonfundament verstärkt werden). Besonders despektierlich fand und finde ich die massive Nutzung der Freifläche und der Wege als Hundetoilette. Das aufgestellte und auch einbetonierte (Vorgänger wurden gestohlen) Hinweisschild wurde ebenfalls augenscheinlich mit Füßen bearbeitet.