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Politik

Zwischen fehlendem Anspruch und prekärer Wirklichkeit

Konflikt an polnisch-belarussischer Grenze hat auch Auswirkungen auf Sachsen

  Zwischen fehlendem Anspruch und prekärer Wirklichkeit | Konflikt an polnisch-belarussischer Grenze hat auch Auswirkungen auf Sachsen

In Polen wird im Umgang mit Schutzsuchenden EU- und Menschenrecht gebrochen. Sachsen ist trotz einer Verdopplung der Geflüchtetenzahlen weit von einer Überlastung entfernt – menschenwürdige Unterbringung ist allerdings auch im Freistaat nicht garantiert.

Von Mauern und Zäunen sprach Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im vergangenen Jahr, Mantra-artig betonten Konservative: 2015 darf sich nicht wiederholen. Grund dafür war die Meldung, die Geflüchtetenzahlen in Sachsen hätten sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Kurzer Realitätscheck: Ja, die Zahl der neu in Sachsen angekommenen Geflüchteten ist im Vergleich zum vergangenen Jahr angestiegen – laut Landesdirektion Sachsen von 4.463 auf 10.222. Nein, an seine Belastungsgrenze ist der Freistaat nie gekommen. 2015 kamen 70.000 Geflüchtete nach Sachsen. »Vergleiche mit 2015 und 2016 verbieten sich«, erklärt Dave Schmidtke vom Sächsischen Flüchtlingsrat gegenüber kreuzer, »eine Überforderung der Behörden war nie zu befürchten, die Zahl der Neuangekommenen ist eine, die man menschenwürdig unterbringen kann. Was leider nicht prinzipiell der Fall ist.«

Aktuell (Stand 18. Januar) befinden sich 2750 Personen in sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen, teilt die Landesdirektion Sachsen auf kreuzer-Anfrage mit – eine Gesamtauslastung von 61 Prozent. Der Anstieg der Zahlen neuankommender Geflüchteter im vergangenen Jahr hängt vor allem mit der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze zusammen.

Belarus‘ autokratischer Machthaber Alexander Lukaschenko ließ in der zweiten Jahreshälfte vermehrt Menschen aus Fluchtgebieten im Nahen Osten nach Belarus einfliegen – vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Im Anschluss begleiteten belarussische Sicherheitskräfte Flüchtende an die polnische Grenze, wo sie gezwungen wurden, unerlaubt die EU-Grenze zu überqueren. Polnische Sicherheitskräfte reagierten mit gewaltsamen Pushbacks von Flüchtenden, was gegen EU-Recht verstößt. Menschen wurden misshandelt und erfroren im Grenz-Wald, etwa 2000 befinden sich derzeit in Haftlagern, wo sie von Öffentlichkeit und Beratungsangeboten abgeschnitten sind.

Eine Delegation der Linken verschaffte sich am vergangenen Wochenende einen Einblick in die Situation vor Ort, mit dabei war auch die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel. »Uns war klar, dass wir dorthin fahren müssen, um nicht nur abstrakt darüber zu sprechen und letztlich auch politische Schlussfolgerungen zu ziehen«, erzählt Nagel dem kreuzer. Vermittelt durch Pawel Matusz, einem Mitglied des Leipziger Migrantenbeirats, kam die Delegation der Linken mit politischen und zivilgesellschaftlichen Vertretern ins Gespräch. Laut Nagel ist die Aufmerksamkeit der Medien zwar schon wieder stark gesunken, noch immer berichteten Aktivisten vor Ort allerdings von menschenrechtswidrigen Missständen. »Durch die extremen Abwehrreaktionen sind Menschen natürlich abgehalten, die Grenze zu übertreten«, sagt Nagel. Allerdings befänden sich nach Schätzungen der Akteure vor Ort auf belarussischer Seite noch immer 1000 Personen auf der Flucht, auch in Polen seien noch Hunderte im Grenzgebiet auf Schutzsuche.

Von der sächsischen Landesregierung erwartet Nagel, dass stärker Verantwortung übernommen wird. Gesprächsfäden, die aufgrund der nachbarschaftlichen Beziehung bestünden, sollten genutzt werden, um auf die Einhaltung von EU-Recht zu pochen, sagt Nagel und stellt zwei direkte Forderungen: »Sachsen sollte im Rahmen des Landesaufnahmeprogramms freiwillig mehr Flüchtende bei sich aufnehmen.« Außerdem fordert die Linken-Politikern, dass keine Dublin-Rückführungen nach Polen mehr durchgeführt werden. Laut EU-Recht dürfen Geflüchtete in das Land zurückgewiesen werden, in welchem sie zuerst EU-Boden betraten. »Das verbietet sich aus unserer Sicht und da kann auch ein Land wie Sachsen agieren und auf den Bund einwirken«, sagt Nagel.

Doch auch in Sachsen angekommen, wird es für Geflüchtete nicht leicht. Zwar folgt die Erstaufnahme in Sachsen rechtstaatlichen Prinzipen, dennoch kritisieren verschieden Akteure die Zustände in den Einrichtungen. Besonders deutlich wird dies an der Leipziger Erstaufnahmeeinrichtung Mockau III, einem Lager aus Zeltvorrichtungen. Im November beklagte der Sächsische Flüchtlingsrat, dass Heizungen vermehrt nicht funktionierten, es Übergriffe auf queere Personen gab und Duschen sowie WCs nicht abschließbar seien. Bewohner begaben sich daraufhin in einen Hungerstreik. Laut Dave Schmidtke hat sich die Situation inzwischen etwas entspannt. Queere Personen befinden sich aktuell nicht mehr in Mockau III, sie wurden in die Erstaufnahmeeinrichtung in der Max-Liebermann-Straße verlegt. »Das ist aber gleichzeitig auch ein Eingeständnis der Landesdirektion, dass besonders vulnerable Personen in Sammelunterkünften generell nicht geschützt werden können«, erzählt Schmidtke. Er kritisiert zudem, dass unabhängige Vereine keine Erlaubnis der Landesdirektion erhalten, um in den Erstaufnahmeeinrichtungen Asylberatung zu leisten. Auf kreuzer-Anfrage teilt Jürgen Herrmann, Presssprecher der Landesdirektion, den Grund dafür mit. »Das BAMF kann den Asylsuchenden am besten den Ablauf des Asylverfahrens und dessen wichtige Rolle für das weitere Aufenthaltsrecht vermitteln«, schreibt Hermann. Niemand wird laut Herrmann daran gehindert, unabhängige Angebote in Anspruch zu nehmen: »Eines Zugangs der verschiedenen Anbieter zu den Aufnahmeeinrichtungen, das heißt einer Beratung in der Einrichtung, bedarf es hierzu nicht.«

Gegenüber dem Sächsischen Flüchtlingsrat hätte die Landesdirektion betont, dass die Qualität der Asylberatung durch unabhängige Akteure nicht gewährleistet ist, sagt Schmidtke. »Was natürlich absurd ist. Als Verein sind wir schon 30 Jahre in der Beratung aktiv, die Expertise unserer Mitarbeiter:innen wurde immer wieder bestätigt«, erzählt Schmidtke und betont, dass ihm bewusst sei, dass zivilgesellschaftliche Akteure von Landesseite oft als störend wahrgenommen werden. »Das ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir haben festgestellt, dass sich oft nur etwas ändert, wenn unabhängige Akteure Kritik äußern. Das gemeinsame Ziel sollte sein, dass sich die Situation für die Geflüchteten verbessert.«

Die Missstände in Mockau III sind kein Einzelphänomen. »Geflüchtete schildern uns immer wieder, dass es zu Auseinandersetzungen kommt, wenn Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und psychischen Belastungen in großen Gruppen und auf engstem Raum zusammenkommen«, erzählt Schmidtke. Er fordert daher, dass der Freistaat vermehrt auf dezentrale Unterbringung setzt. Die Stadt Chemnitz hätte zuletzt versucht, Menschen nach einer ersten Registrierung schnell aus Erstaufnahmeeinrichtungen in eigene Wohnungen zu bringen. Schmidtke berichtet von positiven Symbiosen zwischen Nachbarschaft und Neuankommenden, unterstützt durch die Flüchtlings-Sozialarbeit: »Menschen werden so viel schneller akzeptiert, weil eine Anknüpfung an die Mehrheitsgesellschaft besser möglich ist, als wenn Geflüchtete fernab vom alltäglichen Leben und vom Zugang zu Behörden untergebracht sind.«

In Leipzig sorgt der ohnehin angespannte Wohnungsmarkt dafür, dass nur wenige Wohnungen für Geflüchtete zur Verfügung stehen. Laut Juliane Nagel mangelt es allerdings auch an der Bereitschaft: »Das Sozialamt hat meines Erachtens oft einen paternalistischen Anspruch und sagt, die Menschen müssten erstmal in eine Gemeinschaftsunterkunft, dort wohnen lernen oder sich beweisen und dann dürfen sie erst in eine Wohnung.« Gegenüber privaten Vermietern und Genossenschaften müssten die Brücken besser gebaut werden und auch der Druck erhöht werden, sagt Nagel. »Das Bündnis bezahlbares Wohnen, wo viele private Vermieter mit am Tisch sitzen, bietet hier einen Rahmen, um Lösungen zu finden.«

Damit sich nachhaltig etwas ändert, muss laut Schmidtke die Gesellschaft in ihrer Breite stärker über Missstände aufgeklärt werden: »Die Politik muss hier voran gehen und Maßstäbe setzen, die sich am Wohl der Schutzsuchenden orientieren. Dass Geflüchtete als Menschen zweiter Klasse wahrgenommen werden, wird auf von den bestehenden Unterbringungsformen legitimiert.«


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