Karsten Schütze (SPD) empfängt Ende Januar in seinem Büro im Markkleeberger Rathaus. Der Oberbürgermeister hatte kurzfristig einem persönlichen Treffen zugestimmt: »Sie haben ja geschrieben, Sie sind dreifach geimpft. Ich auch. Also kein Problem.« Aus seinem Fenster kann man auf die Rathaustreppen blicken. Seit Wochen stellen selbsternannte Spaziergänger montags hier Kerzen ab, nachdem sie zuvor im Leipziger Vorort demonstrierten.
kreuzer: Herr Schütze, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer wurde zuletzt dafür kritisiert, die direkte Konfrontation auf Querdenken-Demonstrationen gesucht zu haben. Haben Sie schon mal versucht, mit den Teilnehmenden hier in Markkleeberg ins Gespräch zu kommen?
Schütze: Nein, das habe ich nicht. Dafür habe ich bislang keinen Anlass gesehen. Andersherum: Es hat sich bislang nicht ergeben. Es gibt Prioritäten in der Arbeit eines Oberbürgermeisters. Über das Geschehen werde ich natürlich umfassend informiert. Wir beobachten das schon sehr genau, montäglich spazieren hier Menschen in einer Anzahl im unteren dreistelligen Bereich durch die Stadt. Die Polizei begleitet das und nimmt bei Verstößen gegen die Corona-Notfall-Verordnung entsprechende Personenerfassungen vor. Das Niveau ist zahlenmäßig auf einem konstanten Level geblieben. Da sind Kinder dabei, die Oma mit Rollator. Und man hat, zumindest hat es mir die Polizei so mitgeteilt, nicht festgestellt, dass hier eine Klientel agiert, die der rechtsextremen Szene zuzuordnen ist.
kreuzer: Gäbe es denn überhaupt einen Anlass, ins Gespräch zu kommen?
Schütze: Aus meiner Sicht gibt’s den nicht. Wir leben in einer Demokratie, auch wenn manche Menschen was anderes behaupten. Es gibt das Recht auf freie Meinungsäußerung und es ist legitim, seine Meinung nach außen zu tragen und Proteste oder Widerspruch zu bekunden. Das muss eine Demokratie aushalten, dafür gibt es das Demonstrationsrecht. Dabei muss momentan natürlich die geltende Corona-Notfall-Verordnung eingehalten werden. Aber wenn Menschen in zahlenmäßig vertretbaren Gruppen und mit Abstand durch Markkleeberg spazieren, dann ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden. Das ist eine freie Meinungsäußerung.
kreuzer: Unterschätzen Sie damit nicht die Gefahr, die von diesen Protesten ausgeht? Aufrufe zu den Versammlungen stammen unter anderem von den rechtsextremen Freien Sachsen.
Schütze: Grundsätzlich darf man das nicht unterschätzen. Deshalb würde ich nie sagen, das ist eine Minderheit und das interessiert mich alles nicht. Andererseits erwartet man von einem mündigen Bürger, dass er genau hinschaut, mit wem er zusammen auf der Straße spazieren geht. In Markkleeberg haben wir das Problem nicht so ausgeprägt wie in anderen Städten. Dort werden die Proteste oft von rechtsextremen Strukturen gesteuert, die gezielt mobilisieren, aber natürlich mit einem ganz anderen Ziel. Die wollen nicht bloß die Coronapolitik kritisieren, sondern dahinter steckt das Ziel des Systemumsturzes. Und da wird natürlich versucht, mit einfachen, populistischen Aussagen Menschen auf seine Seite zu ziehen. Gefährlich ist es immer dann, wenn wir eine zunehmende Tendenz feststellen und die Zahl der Teilnehmer steigt.
kreuzer: Den Begriff der Spaziergänger würden Sie dennoch so verwenden?
Schütze: Was sind Spaziergänger? So wie ich das mitkriege, gehen die hier spazieren – bei Wind und Wetter, im Dunkeln. Ich dagegen gehe lieber am Wochenende spazieren, bei schönem Wetter. Aber ich würde diese Menschen jetzt nicht pauschal klassifizieren. Da sind sicherlich vernünftige Menschen dabei, mit denen man reden könnte, die man vielleicht überzeugen könnte. Aber es sind auch Menschen dabei, da kommt man argumentativ nicht gegen an. Und Menschen, die das System umstürzen wollen.
kreuzer: Aber warum sollte Markkleeberg gefeit davor sein, dass hier Rechtsextreme wirken? Gemessen an der Einwohnerzahl wurden 2020 im Landkreis Leipzig so viele rechtsextrem motivierte Straftaten registriert wie in keinem anderen sächsischen Landkreis.
Schütze: Dass hier Rechtsextreme wirken, dafür gibt es bisher keine Bestätigung. Natürlich gibt es auch rechtsextremistische Vorfälle in Markkleeberg. Ob das Angriffe auf andere Personen sind, Beleidigungen oder Schmierereien. Da muss man die Entwicklungen richtig beobachten. Aber wir haben in Markkleeberg eine ziemlich aktive Zivilgesellschaft, das finde ich famos. Nichtsdestotrotz haben wir aber auch Tendenzen, die einem Sorge machen. Gaschwitz ist ein Stadtteil, wo wir Wahlergebnisse hatten bei der Bundestagswahl, an denen man sieht: Okay, hier scheint in der gesellschaftlichen Struktur ein Problem zu bestehen. Die Markkleeberger lassen sich gut mobilisieren, wenn es darum geht, die Demokratie zu stärken.
kreuzer: Gibt es Beispiele dafür?
Schütze: Als vor einigen Jahren eine Veranstaltung von rechten Kräften vorm Rathaus stattfand, wurde aus der Gesellschaft heraus kurzfristig ein Gegenprotest organisiert. Dabei waren auch die Kirchen und die Schulen. Innerhalb kürzester Zeit waren wir mehr als die vor dem Rathaus. Und das ist für den Markkleeberger eine Besonderheit. Der gilt eher als einer, der sagt: »Ach, ich fühle mich eigentlich ganz wohl zu Hause auf dem Sofa.«
kreuzer: Gab es auch Widerspruch zu den montäglichen Protesten?
Schütze: Bei einem Spaziergang hat die Polizei den Aufzug in einer Straße gestoppt, um Identitätsfeststellungen zu machen. Was ich bemerkenswert fand: Die Anwohner haben das Fenster aufgemacht und mit den Leuten diskutiert. Lautstark hat man sich die Meinungen gesagt. Das nenne ich Zivilcourage, dass man nicht nur auf dem Sofa sitzt und sich fragt: Was ist denn da unten los? Sondern das Fenster aufmacht und etwas entgegnet. Also, Respekt vor den Anwohnern, die dort die direkte Diskussion gesucht haben.
kreuzer: Einen organisierten Gegenprotest hat es bislang aber nicht gegeben. (Das Interview fand am 22. Januar statt, seitdem organisierte das Bündnis Leipzig nimmt Platz mehrere Gegenproteste in Markkleeberg, Anm. d. Red.)
Schütze: Die Gedanken gab es und die Gespräche auch. Aber egal, mit wem man gesprochen hat, gingen die Gedanken immer in die gleiche Richtung: Wollen wir die Spaziergänge zusätzlich aufwerten? Ich weiß, das ist in einer großen Stadt wie Leipzig einfacher zu organisieren. Deshalb gibt es da auch x Anmeldungen für Gegenveranstaltungen. Als Kleinstadt in der Nähe der großen Stadt kriegen wir öfter mal Besuch. Es gab ja Aufrufe in Leipzig, nach Markkleeberg zu gehen und Flagge zu zeigen.
kreuzer: Connewitz ist nicht weit weg…
Schütze: Genau. Und solange die Connewitzer nicht mit Steinen in der Hand aus der S-Bahn steigen, sind sie immer willkommen (lacht). Das ist gut so, dass man sich im Umfeld engagiert und nicht nur in der eigenen Stadt. Aber die Markkleeberger haben immer gesagt: Wir wollen dem jetzt mal nicht zusätzliche Aufmerksamkeit schenken. Nach dem Motto: »Soll’n se loofen!«
kreuzer: Ist ein Gegenprotest nicht vielmehr ein Zeichen für eine wehrhafte Demokratie als ein Protest gegen die Menschen, die montags auf die Straße gehen?
Schütze: Wer sagt, dass wir nichts tun? Um die Stärke der Demokratie nach außen zu zeigen und dem etwas entgegenzusetzen, gibt es verschiedene Mittel. Im Landkreis Leipzig haben sich die Bürgermeister zusammengetan und einen offenen Brief vor Weihnachten verfasst. Da war ich als einer der ersten mit dabei und habe unterschrieben. Am Ende haben Tausende unterschrieben. Andere Städte haben Petitionen gestartet, ebenfalls mit tausenden Unterschriften. Die Gesellschaft zeigt ihren Protest gegen diese Spaziergänger oder Querdenker. Wir schauen nicht nur zu.
kreuzer: In den aktuellen »Markkleeberger Stadtnachrichten« beziehen Sie ebenfalls Stellung. Sie bedanken sich bei allen Helfenden in der kommunalen Impfstelle, betonen aber, jeder dürfe in der aktuellen Situation seine »eigene Wahrheit« finden.
Schütze: Ja, das ist ein Ausdruck davon, aber ich versuche die Schwerpunkte anders zu setzen. Weil die Masse der Zivilgesellschaft einfach eine andere Meinung hat. Die lassen sich impfen und testen und halten die Regeln ein. Die Mehrheit ist vernünftig, da ist es eben keine Qual, beim Einkaufen eine Maske zu tragen. Für mich überwiegen die positiven Eindrücke in der Pandemie.
kreuzer: Welche sind das?
Schütze: Wir haben vor Weihnachten alle über 70-Jährigen in Markkleeberg persönlich angeschrieben. Hier klingelte zwei Tage vor Weihnachten nonstop das Telefon, wo sich die Leute bedankt haben. Sie haben uns erzählt, dass sie schon dreimal geimpft wurden und welchen Impfstoff sie bekommen haben. Ich bekam dann plötzlich handgeschriebene Weihnachtskarten von Markkleebergern. Wir haben Ostern mit dem Impfen angefangen. Das kam bei den Markkleebergern an. Keine weiten Wege, kurzfristige Termine zum Impfen. Die Menschen standen zum Dank mit Geschenken für die Ehrenamtlichen im Großen Lindensaal, mit Pralinen und Schokoosterhasen. Das sind doch schöne Erlebnisse und daher nimmt man die Kraft, um zu sagen: Mit dem, was wir aktiv machen, stehen wir auf der richtigen Seite. Die Gesellschaft hält zusammen und da glaube ich auch weiter an das Gute im Menschen.
kreuzer: Haben Sie auch negative Reaktionen erhalten?
Schütze: Ich habe eine einzige E-Mail erhalten, in der stand, ich betreibe mit dem Impfangebot Propaganda. Und ich müsste aufpassen, dass mir das nicht eines Tages auf die Füße fällt. Das ist schon eine Drohung. Dem stehen aber viele andere, zustimmende, Zuschriften gegenüber.
kreuzer: Andere Kommunalpolitiker bekommen vermehrt Drohungen und vermeiden – vielleicht aus Angst –, sich klar zu positionieren. Können Sie das nachvollziehen?
Schütze: Jeder Bürgermeister hat eine Meinung, die er nach außen trägt. Da sucht man vielleicht aber andere Wege als lautes Rufen. Andere haben heftige Reaktionen erhalten, sobald sie sich öffentlich positioniert haben. Wenn dabei nicht mehr unterschieden wird zwischen beruflichem und privatem Umfeld, dann wird es richtig kritisch. Das, was in Grimma bei Frau Köpping passiert ist – da ist eine Grenze mehr als überschritten. Aber ich verstehe nicht ganz, welche Erwartung Sie an einen Bürgermeister haben, wie er sich positionieren soll.
kreuzer: Schauen wir auf den ländlichen Bereich, wo die Mobilisierung durch Rechtsextreme größere Dimensionen erreichen. Wenn dort Interviews mit Pressevertretern oder klare Bekenntnisse vermieden werden, fühlen sich diejenigen alleingelassen, die Gegenprotest leisten.
Schütze: Wenn das Demonstrationsgeschehen stark zunimmt, wenn es gewalttätig wird, wenn es die Kenntnis rechtsextremer Unterwanderung gibt oder verfassungsfeindlicher Meinungsäußerungen: Sollte das in Gemeinden der Fall sein, muss der Bürgermeister logischerweise Flagge zeigen. Da muss er ein öffentliches Statement geben. Aber das sollte man nie allein machen, sondern da muss man gesellschaftliche Akteure als Verbündete suchen und gemeinsam sprechen. Da sollte man sich zu Wort melden und die Sache nicht totschweigen, das ist richtig.
kreuzer: Ein wichtiger Akteur sind dabei sicherlich die Schulen. Als ehemaliger Lehrer haben Sie hier einen persönlichen Einblick. Wie gut funktioniert dort die politische Bildung?
Schütze: Im Unterricht und darüber hinaus in zahlreichen Projekten wird viel gemacht. Das steht und fällt natürlich mit einem Engagement der Akteure der Schule. Ich würde mir wünschen, dass man Demokratiebildung mehr auf Nachhaltigkeit ausrichtet. Was mir momentan auffällt, ist eine allgemeine Nichtkenntnis der demokratischen Zusammenhänge.
kreuzer: Inwiefern?
Schütze: Einige schimpfen immer und sagen, wir leben in einer Diktatur. Aber Diktatur heißt ja, einer entscheidet etwas allein. Aber das haben wir hier nicht. Um es an meiner Person mal festzumachen: Was darf ich als Oberbürgermeister allein entscheiden? Das kann man in der Hauptsatzung der Stadt nachlesen, das ist überschaubar. Das, was gravierende Auswirkungen hat, geht in den Stadtrat. Und dort entscheiden die Stadträte in offenen Sitzungen, in offener Abstimmung. Deshalb verstehe ich nie, warum sich so ein Hass und eine Wut auf eine Person konzentriert. Den Menschen ist nicht bewusst, wie unsere Demokratie funktioniert.
INTERVIEW: LEON HEYDE
TITELFOTO: ANDRÉ KEMPNER