Schon wieder keine Buchmesse. Immerhin liest Leipzig in diesem Jahr dennoch und die popup-Messe und andere Initiativen geben auch den angereisten Verlagen die Möglichkeit, ihre Novitäten zu zeigen. Wir haben im Vorfeld schon reingelesen: Eine ganze Woche lang, Tag für Tag gibt es an dieser Stelle ein kleines Leseangebot der Literaturredaktion.
Die Liebe ist nicht immer die größte Kraft
Der neue Roman von Philipp Winkler schildert den Abgrund des Internets
In »Creep« erzählt Philipp Winkler von Fanny, dem einzigen Kinde reicher Eltern, das ungeliebt in einer großen deutschen Stadt aufwächst. Etwas wie Freude erlebt sie ausschließlich am Computer des Nachbarjungen, einem schrägen Außenseiter, mit dem sie durch die düstere Welt des Darknets cruist. Später findet sie einen Job in einer Firma, die Sicherheitssoftware an reiche Hausbesitzer verkauft, und loggt sich heimlich in die Leben der Kunden ein. Dank grenzenloser Überwachungstechnik lebt sie unsichtbar neben diesen Menschen. Sie ernährt sich vom Leben der anderen und etwas abgepackter Soldatennahrung aus aller Welt. Einmal im Jahr besucht sie ihre Eltern, während ihr Vater ihr nichts zu sagen hat, als an das Stoßlüften in ihrer Wohnung zu denken.
Der etwa zwanzigjährige Yunya vegetiert in Tokio im Haus seiner Mutter im verschlossenen Kinderzimmer am Computer und hat seine Real World längst mit dem Darknet ausgetauscht. Als Kind in der Schule gemobbt und von der Mutter gequält, sucht er wie Fanny das Glück im Leben fremder Menschen. Oder ist es das Leid? An einem bestimmten Punkt greift Yunya zum Hammer seines Vaters, versteckt sein Gesicht hinter einer Maske und wird zum tödlichen Nachtmahr.
Yunya wie Fanny werden von Opfern zu Täterinnen, wobei dieser Grenzübertritt für sie keiner ist, sie leben in ihrem eigenen Space nach eigenen Regeln. Als Kommunikationsfläche zählt allein das Netz, in dem sich wie zufällig ihre Wege kreuzen. Das Netz liebt und hasst alle gleichermaßen, es schenkt Kontrolle, Zuneigung, Anerkennung. Es befreit von der wirklichen Welt, in der für »Creeps« wie Fanny und Yunya kein Platz ist.
Winkler erschafft nach »Hool« einen zweiten wuchtigen Roman mit überzeugenden Bildern. Seine Protagonistinnen mutieren nie zum Teil eines Menschenzoos, er liebt sie und umhegt sie, er hält sie an der Hand, bis er sie in unsere Hände gibt und wir immer tiefer in die finstere Welt von Fanny und Yunya eindringen.
FRANK WILLMANN
Phillip Winkler: Creep. Berlin: Aufbau 2022. 342 S., 22 €
»Auch Leute ohne Papiere haben Papiere«
Toine Heijmans’ Roman »Pristina« irrt zwischen den Niederlanden, Ägypten und Kosovo
Nach dem Erfolg von »Opp Zee« (deutsch: »Irrfahrt«, 2012) erscheint nun der zweite Roman des niederländischen Autors und Journalisten Toine Heijmans auf Deutsch: »Pristina«. Heijmans verwandelt seine Expertise über die Asylpolitik in wunderbare literarische Form: leichtfüßig und eindrücklich, einfühlsam, fundiert und sehr unterhaltsam. Keine Opfererzählung, sondern ein großer Bühnenauftritt.
Ein Mann, ein Koffer, eine Akte. Anton ist ein Spezialbeamter der niederländischen Regierung: Er spürt die sogenannten illegalen, die abgelehnten Asylsuchenden auf und »überredet« sie zur kooperativen Rückführung. Sein neuer Auftrag: Auf der zweitkleinsten niederländischen Insel eine Frau zu finden, von der er wenig weiß – eine lückenhafte Akte, kein Foto, und nicht einmal der Name scheint zu stimmen. Aber Anton lässt sich nicht beirren, seine Erfolgsquote liegt bei 100 Prozent, er weiß, wie die Leute ticken, »durchschaut ihre Geschichten besser als sie selbst«. Doch das Katz-und-Maus-Spiel auf der vernebelten Insel ist von einer anderen Sorte.
In kurzen, eindringlichen Sätzen entfaltet sich langsam die Thematik, tauchen Umrisse aus dem Nebel auf, bekommt die Geschichte Konturen, die mal klarer, mal wieder verschwommener werden. Eine fast filmische Atmosphäre: eine furiose, zwielichtige und skurrile Erzählung wie aus einem Tarantino-Film, nur ohne Schießereien. Es geht um Machenschaften und Machtspiele, um kaltschnäuzige, menschenentfremdete Politik und Bürokratie, um die Lächerlichkeit und Grausamkeit eines Systems, in dem die Menschen zu Aktennummern werden und nur der Auftrag zählt. Heijmans spinnt die Fäden einer großartigen Story. Das Ende führt nach Kosovo, Tarantino trifft Kusturica – fulminant.
MARTINA LISA
Toine Heijmans: Pristina. Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner. Aachen: Edition Amikejo 2022. 345 S., 14,50 €
DDR, Paris, Bordeaux
»Die Paradiese von gestern« zoomt sich durch ein lebendiges Panoptikum von Lebensläufen vor prächtiger Kulisse
Als Ella und René aus Halle in der DDR im Sommer 1990 durch Frankreich reisen, sind sie begeistert. Der Nerv ihrer romantischen Vorstellungen ist erst recht getroffen, als sie in einem leicht angenagten Château einchecken. Da lernt man sich gleich ganz anders kennen, und kennenzulernen sind auch die Schlossgeschichte samt Schlossherrin und letztem Angestellten. Darin hängt bisweilen unbestimmte Sehnsucht. Zum Kontrast gibt es einen gänzlich unverträumten mehrtägigen Abstecher nach Paris, bei dem Geld plötzlich keine Rolle spielt. Fast wie zufällig ergibt sich aus diesen verschiedenen Fäden eine Geschichte mit Spannungsbogen, die gekonnt aufgeschrieben ist und Neugier erzeugt, weil sie selbst neugierig ist auf Landschaften, Gassen und Leute. Und weil sie von viel Anschauung getragen ist. In seinem Debüt schafft Mario Schneider – vor allem als Dokumentarfilmer bekannt geworden – das Kunststück, die mehrdimensionale Dichte aus Eindrücken und Einzelheiten eines jeden Augenblicks in geschriebenen Text zu gießen. Aus seinen präzisen, gut beobachteten Beschreibungen und Vergleichen entstehen deutliche Szenen und lebendiges, exakt charakterisiertes Personal – Schneider hat wohl ziemlich oft mit seinen Figuren am Fenster gestanden und ihnen zugehört.
Die träumen den Zeiten hinterher, als der eigene Name noch für Aristokratie und guten Wein stand, mühen sich um ein differenziertes Bild der DDR, kommen über Liebe und Verliebtsein ins Grübeln. Das kippt nicht in Wehmut über verpasste Chancen, was mit dem gekonnten Ritt durch Jahrzehnte und Jahrhunderte und dem ständigen Perspektivwechsel zu tun hat. Und alle lernen was: über Zweisamkeit und Geld, über die Buntheit der Welt und dass es Hoffnung gibt, obwohl (oder weil) nichts so ist, wie es mal war.
FRANZISKA REIF
Mario Schneider: Die Paradiese von gestern. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2021. 552 S., 28 €