Matthias Schwieger leitet den Botanischen Garten – er führt den kreuzer durch sein Reich und spricht über Knöteriche, Molche und alkoholisierte Bananenfalter
Mauerbiene und Esparsetten-Widderchen haben hier ihren Lebensraum inmitten einer Vielfalt von Pflanzen, die Leipziger und Leipzigerinnen einen Entspannungsort. Natürlich dient der Botanische Garten der Universität vor allem der Lehre – er ist übrigens der älteste Deutschlands. Aber das Gartenreich ist noch viel mehr. Und wer könnte das besser erklären als sein Technischer Leiter Matthias Schwieger? Er nahm das kreuzer-Team mit auf Tour ab durch die Botanik.
kreuzer: Ist das dort die gleiche Magnolie wie die an der Klingerbrücke, dieser beliebte Hotspot für Selfies?
Matthias Schwieger: Mit Sicherheit, das ist die Magnolia x soulangiana. Die ist sehr beliebt und sie macht 90 Prozent aller Magnolien in Gärten aus. Die hat jetzt ihr Blütenfestival. Aber es gibt noch viele andere Arten.
Die man bei Ihnen sehen kann. Wie ist der Garten sortiert?
Wir haben zwei Gliederungsprinzipien. Das pflanzengeografische Prinzip sortiert die Pflanzen nach ihren Heimatgebieten. Wir repräsentieren alle gemäßigten Klimazonen im Freiland. Und auch im Gewächshaus gliedern wir geografisch. Was wir noch nicht haben und woran wir bauen, ist ein Gewächshaus speziell für den afrikanischen Kontinent, also eine räumlich separierte Sammlung, denn die Exponate gehen derzeit zwischen den anderen ein bisschen unter. Das andere große Gliederungsprinzip ist die Systematik, das betrifft die Verwandtschaftsverhältnisse. Diese zeigen wir an, indem wir näher verwandte Pflanzen beieinander gruppieren. Hier stehen wir gerade in einem Pflanzensystem, wo die Familie der Sonnentaugewächse neben Kakteen wächst. Das zeigt Ihnen die Herausforderung, vor der wir Gärtner stehen. Stammesgeschichtliche Trennungen können bei Blütenpflanzen bereits 50 bis 60 Millionen Jahre zurückliegen und die Pflanzen haben sich seitdem komplett selbstständig voneinander entwickelt. Das hier ist ein Extrembeispiel für Pflanzen mit unterschiedlichsten Standortanforderungen, die wir gemeinsam präsentieren. Bei anderen Familien müssen wir neben Gebirgs- auch Wasserpflanzen pflegen. Das macht den gärtnerischen Anspruch und Reiz aus.
Zum Glück sind alle Exponate beschildert.
Ein bisschen muss man sich bei der Beschilderung schon zurechtfinden. Schauen Sie hier: Auf dem Schild steht »Polygonaceae«. Dann denken manche, damit ist hier dieser Lerchensporn daneben gemeint. Viele kennen den, aber nicht alle. De facto bezeichnet der Name aber den kleinen Zwerg-Knöterich, der hier blüht. Das ist tricky. Da drüben ist noch eine einzelne Blüte, die muss man suchen.
Da hilft es, wenn ich die Polygonaceae kenne, um den Lerchensporn auszuschließen?
Dem Fachmann schon, auch viele ambitionierte Laien wissen das. Und von unseren Studiosi erwarte ich das.
Die universitäre Bildung ist die primäre Aufgabe des Gartens?
Sein ursprünglicher Auftrag sind Forschung und Lehre. Aber auch der sogenannte Transfer ist eine eher neue, aber umso wichtigere Aufgabe, die das botanische Wissen einer breiten Öffentlichkeit vermittelt. Das gibt uns die Möglichkeit, Ressourcen dafür einzuwerben und mehr für das breite Publikum anzubieten.
Wie der Kuriositätenpfad, der letztes Jahr eingeweiht wurde, oder der Pflanzenmarkt?
Genau, oder die verschiedenen Führungen und Schulklassenangebote, die wir dieses Jahr nach dem Corona-Ausfall wieder aufnehmen. Und ja, der Pflanzenmarkt, den wir 2013 aus der Taufe gehoben haben, ist ein wunderbares Treffen der Pflanzen-Nerds. Ich nehme immer nur fünfzig Euro mit und nach dem dritten Stand sind die weg, dabei haben wir vierzig und mehr Aussteller.
[Er zeigt auf eine zentrale Fläche im Bereich vorm Haupteingang.]
Hier im vorderen Teil des Beetes ist ein Publikumsprojekt vorgesehen. Unsere Besucher könnten wir nur bedingt beeindrucken mit einer, ich sag’s mal lax: Sammlung von Koniferen. Zwischen den zukünftigen Bäumen ist aber noch Platz und dort stellt ein temporäres Projekt, das übrigens unsere Lehrlinge betreuen, Pflanzenarten für spezielle Blütenbesucher vor. Das wird farblich gegliedert und erläutert dem Besucher, wo die Unterschiede liegen zwischen Pflanzen, die blütenbesuchenden Insekten etwas bieten, und Pflanzen, die den Raupen der Insekten als Futter dienen. Das wird ja im Allgemeinen übersehen, wenn es im Baumarkt heißt: »insektenfreundliche Pflanzen« – abgesehen davon, dass ich dort vor allem Exoten finde, die den heimischen Insekten wenig nützen. Das sollen die Besucher erfahren: dass es mit einer reinen Blütenpflanze nicht getan ist und es schön wäre, auch den Raupen etwas zu bieten.
Wie sind Sie eigentlich nach Leipzig gekommen?
Ich hatte in Norddeutschland meine Gärtnerlehre gemacht, dann in verschiedenen Gärtnereien und botanischen Gärten gearbeitet und danach Gartenbau und Landschaftsplanung studiert. Dann sah ich diese Stellenausschreibung, die noch aus DDR-Zeiten im April 1990 stammt. Ich wurde genommen, kam Anfang 91 nach Leipzig und lernte dann als ursprünglicher Wessi, auch Ofenheizungen zu bedienen. Das war eine totale Aufbruchsstimmung, und mich hat die Aufgabe gereizt.
Sie hatten immer schon den grünen Daumen?
Ich bin im Wald aufgewachsen, wurde quasi zwischen Scharbockskraut und Buschwindröschen sozialisiert. Ich wusste schon mit zehn Jahren, dass ich Gärtner werden wollte. Ich mache das also aus Berufung. Wobei ich dann mit Pflanzen anfangs hier im Botanischen Garten gar nicht mehr so viel zu tun hatte bei der Aufbauarbeit.
Was macht man hier als Technischer Leiter?
Ich finde die Beschreibung »gärtnerischer Leiter« schöner. Was die Kernkompetenz angeht, fallen unter meine Leitung alle gärtnerischen und gartenbautechnischen Aufgaben. Also: Welche Geräte, welche Naturalien, welche Anbaumethoden, welche Gewächshaustechnik setze ich ein, um welche Ergebnisse zu erzielen? Dann beinhaltet das die Personalführung und die Ausbildung der Lehrlinge. Und die Finanzakquise und Verwaltung und die Begleitung der baulichen Dinge. Das gärtnerische Supervisen ist also nur ein kleiner Teil der Aufgabe, die Veranlassung von baulichen Dingen und strukturelle Arbeit in den Gremien zählen auch dazu. So fiel in den Neunzigern der Neubau der Gewächshäuser an, Arbeiten, die bis 2003 dauerten.
Haben Sie eine Lieblingspflanze?
Das ändert sich ständig. Um diese Jahreszeit finde ich den Rhododendron bureavii, eine malaysische Art, wunderschön.
[Wir gehen ein paar Meter.]
Schauen Sie hier. Die blüht im Augenblick, noch schöner aber ist das Blatt. Das ist leicht runzelig und auf der Unterseite wächst eine rostbraune Behaarung. Ich nehme mal ein Blatt ab. Das sogenannte Indument, also das Haarkleid, lässt sich mit dem Fingernagel abstreifen. In manchen Jahren ist das farblich noch intensiver, fast rostrot. Ob ich es mir in meinen Garten pflanzen würde, weiß ich nicht. Aber es ist ein wunderschönes Blatt und auch vom Habitus her sehr gelungen.
Sie gärtnern auch privat zum Feierabend?
Da kann ich ja meine Hände wieder selber in den Boden stecken. Daher sage ich immer mal scherzhaft zu einem Kollegen: »Komm, wir tauschen mal einen halben Tag, geh du mal ins Büro und ich mach deinen Job.« Das hole ich dann abends oder am Wochenende nach.
Ihnen haben es für Ihren Garten besonders Gräser angetan, wie Sie einmal sagten?
Ach, die Gräserphase ist schon wieder vorbei. Was mich in meinem Garten erst kürzlich gefreut hat, ist der frische Austrieb einer Knöterichart. Das ist die Sorte Johanniswolke, die an Johannis [24.6., Anm. d. Red.] im Juni wunderbar blüht. Ihr Duft erinnert mich an meine Kindheit. In der Nachbarschaft hatten wir viele Bauernhöfe, wo Schweine noch artgerecht gehalten wurden. Sie duftet nach Schweinestall. Und diese Pflanze hat mich neulich mit ihren faustgroßen Knospen begeistert. Das hat eine Kraft und Ausdrucksstärke. Oben sind die vertrockneten Halme. Die sind hohl und da leben auch schon mal Ohrenkneifer darin. Und darunter kommen die Knospen raus.
Wie viele Auszubildende haben Sie, und was muss man für einen grünen Beruf mitbringen?
In der Regel bilden wir pro Lehrjahr zwei Leute aus, die nach ihrem Abschluss oft noch ein Jahr bei uns bleiben. Leidenschaft setzen wir voraus. Und dann bedarf es einer Beobachtungsgabe ähnlich wie bei der Tierpflege. Der Gärtner sollte seine Pflanze täglich einmal sehen und dabei auch frühzeitig erkennen, ob etwas schiefläuft. Bevor Blätter richtig gelb werden und abfallen, sind schon Nuancen zu sehen, ist das Blatt nicht mehr satt dunkelgrün. Dann kann man gleich reagieren. Die Beobachtungsgabe testen wir übrigens auch. Während der Bewerbungsphase schicken wir die Bewerber auf Parcours durch den Garten. Und dann müssen sie kundtun, was sie so gesehen haben.
Auch für die Öffentlichkeit ist der Garten ein Ort zum Beobachten. Gelten Mai und Juni als schönste Saison des Gartens?
Ja, denn da steht vieles in der Blüte. Im Idealfall kommen Sie zu einer Witterung wie heute, wo so ein bisschen Regen in der Luft hängt. Oder Sie kommen an einem warmen Juniabend, wenn neben den überall blühenden und duftenden Pflanzen auch die Glühwürmchen fliegen. Das ist für mich persönlich die Krönung.
Welche Forschung findet hier statt?
Direkt im Garten forschen wir nicht, sondern wir bereiten das Pflanzenmaterial vor, mit dem geforscht wird. Die eigentliche Forschung wurde in das neue Gewächshaus verlagert. Die meisten Biologen mit Pflanzenschwerpunkt, die an der Uni angestellt sind, sind auch Teil des Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung, des IDIV. Und dieses Gewächshaus dort drüben wurde speziell für die IDIV-Forschung gebaut. Es überschneidet sich also und ist damit eine Forschungsbündelung. Das sind Synergien: Von uns ausgebildete Gärtner arbeiten im Forschungsgewächshaus, der eine Wochenenddienst ist dort tätig und umgekehrt, wir haben ähnliche Steuerungssysteme für die Gewächshäuser. Nicht nur wir forschen hier, sondern auch Wissenschaftler vieler anderer Disziplinen, angefangen beim Biomasseforschungszentrum bis zu Veterinärmedizinern. Wollen Sie noch die Gewächshäuser sehen?
Gern.
[Wir passieren einen Teich.]
Den gestalten wir um, natürlich mit wissenschaftlicher Begleitung. Wir haben nämlich für einen städtischen Garten einen ungewöhnlich hohen Molchbestand, den wir schützen wollen. Die finden hier einen sicheren Rückzugsraum, auch, weil hier kaum Fische leben. Früher hatten wir unglücklicherweise ungewollt Goldfische im Teich, die wohl jemand ausgesetzt hat. Wie bekommt man die wieder raus? Indem man einen Hecht reinsetzt. Den bekamen wir aus der Angler-Community.
Sie müssen sich nicht nur botanisch, sondern auch mit Fischen und Schmetterlingen auskennen?
Da hangelt man sich dann so aus der Botanik heraus. Wir haben leider bei den Schmetterlingen viel Lehrgeld gezahlt. Wir waren das zweite oder dritte Schmetterlingshaus Deutschlands. Da gehen wir jetzt hin. Aber vorher zeige ich Ihnen noch etwas.
[Wir durchqueren mehrere Gewächshäuser.]
Diese Pflanze beschäftigt die Gärtnerschaft derzeit stark. Wir stehen hier vor zwei Aloe-Arten. In der Mitte befindet sich ein Stamm mit uralten, zum Teil längst eingetrockneten Blättern, aber schauen Sie den großen blühenden Blattschopf, der da oben herauswächst. Und diese andere rankt sich an dieser alten Aloe herum nach oben. Der Blütenstand aus dem letzten Jahr reicht bis unters Dach. Der wird dieses Jahr noch wachsen und wir müssen uns bis Herbst etwas ausdenken. Wir haben die Idee, den Blattschopf von drei Metern Durchmesser mit Trägern und Ketten zu sichern, ihn dann abzuschneiden und zu versuchen, ihn neu zu bewurzeln. Das wäre ein Husarenstück, wenn das gelänge.
[Wir gehen weiter.]
Da drüben steht das Victoriahaus, da müssen wir sicherlich nicht darüber sprechen. Das ist ja ausreichend thematisiert worden …
Wo die Riesenseerosen ihr restauriertes Heim fanden?
Genau. Also, hier sind wir nun bei den Schmetterlingen. Die bekommen neben Früchten wie Orangenscheiben künstlichen Nektar, den Sie in den Gefäßchen mit simulierten Blütenfarben sehen. Die Früchte gären in der Wärme sehr schnell, weshalb der Bananenfalter einen leichten Alkoholismus pflegt. Da oben fliegt ein blauer Morphofalter. Der macht seine Flüge in den Baumkronen. Dort ist der Monarch, der berühmte nordamerikanische Wanderfalter, der zum Überwintern 5.000 Kilometer nach Mexiko zurücklegt.
Züchten Sie die Schmetterlinge selbst?
Im Sommer schon, aber im Winter nicht. Das geht aus technischen Gründen nicht. Im Winter fehlt das Licht und es fehlen auch genügend Futterpflanzen. Wir machen jedes Jahr einen Neustart und ziehen sie aus dem Puppenstadium. Die Puppen kommen vorwiegend aus Costa Rica von Kleinbauernprojekten. Und die hier im Haus entstandenen Schmetterlinge legen dann ihre Eier an den Pflanzen, wobei jede Art Vorlieben hat, was die Futterpflanze ihrer Raupen angeht.
Wenn Sie mal keine Lust auf Grün haben, was machen Sie dann?
Dann habe ich Lust auf Blau. Als gebürtiger Meeresanrainer bin ich froh, dass Leipzig so eine große Seenlandschaft hat. Da tauche ich einfach buchstäblich ab. Als ich hierher kam, war das noch nicht so. Ich weiß noch, als ich damals am Tagebau Cospuden stand, vor diesem riesigen Loch. Da wuchs einsam am heutigen Nordufer noch diese uralte Eiche, die vor drei Jahren gefällt wurde. So ein Bild prägt sich ein.
Der Eintritt für die Gewächshäuser ist gering, der aufs Freigelände kostenlos. Wie kann man Sie unterstützen?
Mit einer Pflanzenpatenschaft. Wenn ein Gast das möchte, können wir das individualisieren. Wir haben beispielsweise eine Patenschaft für eine Arnika, da war die Großmutter des Spenders Pharmazeutin. Oder wenn die Familie aus den Appalachen kommt, kann man eine Pflanze aus der Region wählen. Das ist schön, mit den Menschen darüber ins Gespräch zu kommen und das zu arrangieren.
Eine persönliche Frage: Haben Sie auch Gänseblümchen?
Jede Menge, die könnten wir auch einzeln vermarkten. Im Ernst: Ja, das wäre möglich und auch eine sinnvolle Sache. Denn Gänseblümchen gehören in jeden Rasen.
INTERVIEW: TOBIAS PRÜWER & FRANZISKA REIF, FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH
■ Pflanzenmarkt: 30.4.–1.5., 10–18 Uhr
■ Kakteenschau: 21./22.5., 10–18 Uhr
Biografie: Matthias Schwieger, geboren 1962 in Norddeutschland, ist gelernter Gärtner. Nach Wanderjahren als junger Gärtner, die ihn u. a. nach Südafrika führten, und nach dem Gartenbaustudium in Osnabrück arbeitete er zunächst in Stuttgart. Seit 1991 ist er Technischer Leiter des Botanischen Gartens der Universität Leipzig.