anzeige
anzeige
Politik

»Wir versuchen, ein gutes Beispiel für islamische Gesellschaft zu sein«

Muslimisches Leben im Krieg

  »Wir versuchen, ein gutes Beispiel für islamische Gesellschaft zu sein« | Muslimisches Leben im Krieg

Scheich Said Ismagilov gilt als einer der spirituellen Führer von Muslima und Muslimen in der Ukraine – der sogenannten Umma.  Er ist Mufti der »Religionsverwaltung der Muslime der Ukraine« und hat sich zu Kriegsbeginn den »Territorialen Verteidigungskräften« in Kiew angeschlossen. Momentan befindet er sich an der Front. Via Satellitentelefonie hält er Verbindung zu seiner Stellvertreterin Viktoria Nesterenko. Das Interview findet in Scheich Said Ismagilovs Büro statt. 

Wie ist das Leben von Musliminnen und Muslimen in der Ukraine? Fühlte sich die islamische Gemeinde vor dem Krieg anders behandelt als beispielsweise die Christen?

Nein. Auf der rechtlichen Ebene lässt sich sagen, dass die Ukraine eine sehr gute  Gesetzgebung hat. Im Bereich der Religionsfreiheit, also die Ausübung der Rituale, gibt es absolute Freiheit, die gesetzlich garantiert ist.
 

Das haben wir in Deutschland auch. Gleichwohl führen Muslima und Muslime ein Schattendasein und es existieren Vorurteile in der Gesellschaft.

Das ist hier nicht anders. [lacht] Auf der sozialen Ebene, der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen, existieren sehr viele Stereotype und Vorurteile. Nicht nur seitens der nichtislamischen Bevölkerung, sondern auch seitens der islamischen.
Muslimische Menschen, die nicht in der Ukraine geboren sind, sind oft nicht integriert. Mit diesen Problemen setzt sich auch die geistliche Führung auseinander. Scheich Said war immer sehr aktiv. Er hat sich bemüht, den Muslimen beizubringen, sich als Teil der ukrainischen Bevölkerung zu sehen. Wir versuchen, ein gutes Beispiel für islamische Gesellschaft zu sein. Seit Kriegsbeginn konnte man sehr deutlich sehen, wer bleibt und wer das nicht tut. Wer sich in der Territorialverteidigung oder der Armee betätigt und wer nicht. Aktuell ist es so, dass die Grenzen zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Bevölkerung immer weiter verschwinden.



Viktoria Nesterenko - Marco Brás dos Santos Viktoria Nesterenko ist 28 Jahre alt, leitet die Zertifizierungsstelle für Halal-Produkte und ist Vorsitzende der Rechtsschutzorganisation »Zusammen mit dem Gesetz«. Diese vertritt die Interessen der Musliminnen und Muslime in der Ukraine. Zu Beginn des Krieges gründete sie mit Scheich Said Ismagilov eine Hilfsorganisation, um die muslimischen Kämpfer in der ukrainischen Armee zu unterstützen. 

 

 

 


Wie sieht das Leben der muslimischen Menschen nun während des Krieges aus?

Viele haben die Ukraine verlassen. Die Menschen, die hiergeblieben sind, haben das getan, weil sie es wollten. Sie helfen mit, die Ukraine zu verteidigen. Es sind auch mindestens drei Moscheen zerstört worden. In der Nähe von Cherson, bei Donezk und in Mariupol – aktuell gibt es keine Verbindung zu den Gemeinden in diesen Regionen. Wir haben auch große Probleme mit dem Essen: Halalprodukte sind seit Kriegsbeginn schwer zu finden.
 

Was ist mit den Nazis in der Ukraine? In Deutschland wird viel über Rolle des Regiments Azov diskutiert.

Ich kenne persönlich keine Nazis in der Ukraine. Ich habe sehr viele Freunde unter den Nationalisten und auch im Regiment Azov. Ich pflege gute Beziehungen mit ihnen und halte sie nicht für Nazis. Ja, das sind Nationalisten, aber das Programm kollidiert nicht mit meinen Überzeugungen. 
 

Was ist mit dem politischen Arm von Azov – dem »National Corpus«?

Ich weiß nicht viel über diese Bewegung. Ich halte sie nicht für Nazis. Gleichwohl kann ich nicht ausschließen, dass sich in den Reihen auch Menschen mit einer solchen Gesinnung finden. Sicher ist auch, dass es Nazis in der Ukraine gibt. Das ist natürlich, denn es gibt sie überall.

 

Wie erleben andere Religionsgemeinschaften den Krieg in der Ukraine?

Hier lesen Sie ein Interview mit der Jüdin Rahel Strugazkaja, die in einer Kiewer Synagoge Freiwilligenarbeit koordiniert.

Hier finden Sie einen Bericht aus einem Stadtteil in Kiew, in dem die orthodoxe Gemeinde sich zum Zentrum des solidarischen Widerstandes entwickelt hat. 

Titelbild: Alina Smutko.


Kommentieren


0 Kommentar(e)