Nordöstlich in Kiew liegt die unscheinbare Siedlung Dvrz. Inmitten des Parks "Sosnovyy" steht die Orthodoxe Kirche, ein kleiner Supermarkt und ein Theater – mit großer Bunkeranlage. Zu Kriegsbeginn wandelte sich das beschauliche Kleinod zum Zentrum eines solidarischen Widerstands.
Wir erreichen einen kleinen, geschäftigen Supermarkt inmitten der Kiewer Siedlung Dvrz. Im Hintergrund eine Kirche mit goldener Kuppel. Wir werden von den Schwestern Yulia und Lilia Salo empfangen, die bereits auf uns warten. Sie geleiten uns durch eine Tür neben dem Supermarkt in den oberen Teil des Gebäudes. Wir betreten einen großen Raum mit Theke und einem wilden Mix aus Spielgeräten, Sofas und einem großen Schreibtisch. »Hier leben wir« sagt Yulia. Es handelt sich um ein umfunktioniertes Kinder- und Jugendcafé. »Kommt, dort hinten ist die Küche«. Es dampft und riecht gut. »Das ist Ludmila, die Chefköchin«. Ludmila horcht auf, lächelt bescheiden für ein Foto und widmet sich dann wieder dem großen Kochtopf.
»Zu Kriegsbeginn haben sich alle Anwohnerinnen dort unten getroffen, um Schutz im Bunker zu suchen«. Yulia deutet durch das Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude des Theaters und signalisiert uns, ihr zu folgen. Nach zwei Treppen abwärts stehen wir vor einer gepanzerten Tür, auf der auf Ukrainisch »Bitte leise schließen« steht. Wir betreten eine Bunkeranlage mit mehreren Räumen. Einige davon werden erst durch unser mitgeführtes Kameralicht sichtbar. Darin befinden sich provisorische Hochbetten, Matratzen und eine kleine, mit Stühlen abgesperrte Ecke mit einer Tafel. »Hier haben wir die Kinder unterrichtet« kommt Yulia unserer Frage zuvor. »Die Räume waren voll mit Menschen. Die Erwachsenen haben tagelang im Sitzen geschlafen, die Kinder durften liegend schlafen. Hier haben sich die meisten von uns erst kennengelernt und wir haben angefangen, unsere militärische Selbstverteidigung zu koordinieren und zentral zu kochen. Dafür haben wir Unterstützung von der Kirche erhalten«. Yulia deutet uns wiederholt an, zu folgen. Wir folgen.
Treppe hoch, über den Platz auf das Gelände der Kirche. Dort wartet bereits Pfarrer Alexander. Lediglich die lange, dunkelblaue Kutte verrät seinen Status. Die Fleecejacke darüber wirkt unkonventionell und damit bescheiden. Der erste Eindruck bestätigt sich. Alexander hat eine offene und freundliche Ausstrahlung. Neugierig wartet er auf unsere Fragen. Als er merkt, dass wir nicht konkretes im Sinn haben, deutet er auf eine Feldküche. »Die habe ich eigentlich für Kirchenfeiern gekauft«. Yulia ergänzt: »Alexander hat uns die gesamte Infrastruktur der Kirche zu Verfügung gestellt. Feldküche zum Kochen, Kirche zum Lagern, Garage für die Verteilung von Brotes. Das bekommen wir täglich von der Fabrik geliefert. Kostenlos« ergänzt die eher ruhigere Schwester Lilia. »Ob wir die Kirche sehen wollen« fragt Vater Alexander und führt uns in den unteren Teil der Kirche. »Der obere Teil ist noch eine Baustelle – seit 17 Jahren um genau zu sein«, fügt er lachend hinzu. Wir müssen ebenfalls schmunzeln. Bis zur Fertigstellung wird es nun wohl noch länger dauern.
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Titelfoto: Marco Brás dos Santos