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Politik

»Der schlimmste Moment war, als der Rabbi die Tora aus der Synagoge getragen hat«

Jüdisches Leben im Krieg

  »Der schlimmste Moment war, als der Rabbi die Tora aus der Synagoge getragen hat« | Jüdisches Leben im Krieg

Wir treffen Rahel Strugazkaja mit ihrer Familie in der Brodsky-Synagoge. Es ist die letzte jüdische Familie in der Gemeinde, jetzt koordiniert Strugazkaja die Freiwilligenarbeit in der Synagoge. Im Interview möchte sie bewusst als Privatperson sprechen und nicht stellvertretend für alle jüdischen Menschen in der Ukraine. 1999 kam sie aus Israel in die Ukraine, sie ist israelische Staatsbürgerin. Ihre Kinder wurden alle in der Ukraine geboren.

Wie hast du das jüdische Leben in Kiew und der Ukraine vor dem Krieg wahrgenommen?

Wir sind gerade deswegen geblieben, weil wir uns hier zuhause fühlen. Wir wollen nirgendwo Migranten oder Fremde sein. Vor dem Krieg habe ich ich als Lehrerin im Heder gearbeitet. Heder ist eine religiöse Schule für kleine Jungen. (Je nach Ausrichtung können auch kleine Mädchen dort lernen. Anm. d. Red.) Unsere zwei ältesten Kinder haben eine staatliche Schule besucht. Dort war es nie ein Problem, dass sie samstags die Schule aus religiösen Gründen nicht besucht haben. Keines unserer drei Kinder hat bisher Diskriminierung bezüglich seines Glaubens erfahren. Und das, obwohl unser ältester Sohn die jüdische Tracht trägt. 
 

Was hat sich durch den Kriegsausbruch für das jüdische Leben in Kiew verändert?

Wir hatten anfangs große Angst. Wir hatten nicht mit diesem Verlauf gerechnet. Der schlimmste Moment war, als der Rabbiner die Tora-Rollen aus der Synagoge getragen hat. Wenn die Tora die Synagoge verlässt, bedeutet das, dass das jüdische Leben aufhört. Vor dem Krieg gab es etwa 200.000 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Aktuell sind es nur noch vereinzelte Personen. In der Regel ältere Menschen, die die Stadt nicht verlassen konnten.

Besonders bitter: acht Jahre vor dem Krieg ist am Rande von Kiew ein kleines Schtetl (Begriff für eine Siedlung mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil, Anm. d. Red.) namens Anatevka entstanden. Dort fand jüdisches Leben statt, wie es sich gehören würde und nun existiert es einfach nicht mehr. Größtenteils waren die Bewohner von Anatevka jene, die bereits aus dem Donbass flohen. Jetzt sind sie zum zweiten Mal Flüchtlinge geworden.

Wie sieht aktuell der Alltag für euch aus?
Heute ist es deutlich ruhiger als am Beginn des Krieges. Seit dem 6. März kamen täglich bis zu vierhundert Menschen. Mehrere Busse brachten sie auf einen Schlag hier in die Synagoge. Sie bekamen Essen und eine Übernachtungsmöglichkeit und wurden von hier weiter evakuiert. Darunter waren viele Menschen in schlechter körperlicher Verfassung, weil sie so lange in ihren Kellern ausgeharrt hatten – ohne Wasser und ohne Strom. Für die Schwerverletzten hat der Rabbi Liegendtransporte organisiert.
Inzwischen kommen wir meist gegen acht Uhr morgens. Es gibt heute keine Flüchtlingsströme mehr, aber wir werden von unterschiedlichen Organisationen kontaktiert, die unsere Hilfe benötigen. Zu Tagesbeginn gibt es Frühstück für alle, die in der Synagoge sind. Danach kochen wir Essen für die Menschen in der Territorialverteidigung und an den Checkpoints. Das Essen wird dann dorthin geliefert. Außerdem werden täglich Einzelpakete für Bedürftige – vor allem Ältere – vorbereitet. Für alle, auch für die aus anderen Gemeinden oder ohne Gemeindezugehörigkeit.
 

In Deutschland fallen oftmals zwei Namen, wenn es um nationalistische Kräfte in der Ukraine geht: Asow und Corpus National. Sind Ihnen die ein Begriff?

Ich bin Mitglied des Corpus National [Sie legt einen Ausweis der Territorialverteidigung auf den Tisch]. In meiner zweiten Ausbildung bin ich Krankenschwester. In den ersten Tagen nach Kriegsausbruch war ich dort tätig. Obwohl ich keine doppelte Staatsbürgerschaft habe, fühle ich mich als Staatsbürgerin der Ukraine. Wenn unser kleiner Sohn nicht wäre, dann wäre ich jetzt an der Front. Die Vorstellung, dass das Regiment Asow oder Corpus National irgendwelche extrem nationalistischen Vorstellungen transportieren, ist irrsinnig und falsch. Die Menschen von Asow oder Corpus National sind so gleich wie ich, mein Mann oder meine Kinder. Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen und mir.
 

Entschuldige, ich verstehe das nicht. Wie kommt es, dass eine jüdische Frau Mitglied beim Corpus National ist?

[Es wird hektisch. Rahels Mann Natan ergreift das Wort] Nationale Bewegungen in der Ukraine richten sich nicht gegen andere Nationalitäten in der Ukraine. Es ist mehr eine Bewegung für die Unabhängigkeit der gesamten Ukraine. Heutzutage besteht das ukrainische Volk aus unterschiedlichen Nationalitäten.
 

Eine Art positiver Nationalismus also?

[Rahels Mann Natan behält das Wort] In seiner ersten Rede im Parlament sagte der amtierende Präsident »Ukrainer sein, das ist im Herzen und nicht im Pass«. Wenn der Westen verstehen würde, dass sich unter dem Begriff »Ukrainer« Menschen jedweder Herkunft befinden, die friedlich beieinander leben, dann würde die Frage nach negativem Nationalismus gar nicht aufkommen.

  

Weitere Informationen zum Schtetl Anatevka finden Sie hier.

 

Wie erleben andere Religionsgemeinschaften den Krieg in der Ukraine?

Hier lesen Sie ein Interview mit Viktoria Nesterenko, der Stellvertreterin der ukrainischen Umma. 

Hier finden Sie einen Bericht aus einem Stadtteil in Kiew, in dem die orthodoxe Gemeinde sich zum Zentrum des solidarischen Widerstandes entwickelt hat. 

Titelbild: Rahel Strugazkaja, Rabbi Moshe Reuven Azman, Viktor Baraboj und Marco Brás dos Santos (v.l.). Foto: Marco Brás dos Santos.

 


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