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»Manchmal muss man schauspielern«

Harald Seyfarth im Interview des Monats

  »Manchmal muss man schauspielern« | Harald Seyfarth im Interview des Monats

Kabarett und Berufsverbot, Nachtbar und Reiseleitung: Harald Seyfarth ist voller Geschichte und Geschichten. Das kreuzer-Interview des Monats im Abo.

»Wir haben hier alles vor der Nase: die Kneipchen, die Geschäfte«, sagt Harald Seyfarth. Der begnadete Smalltalker hat auf seinem Balkon unweit vom einstigen Lene-Voigt-Wohnhaus in Zentrum-Süd zum Gespräch eingeladen. Eingerahmt von schattenspendenden Hecken hüpft dieses quer durch Seyfarths Lebensgeschichte, die stets etwas mit Kultur zu tun hat.

Kultur zieht sich als roter Faden durch Ihr Leben. Wie kam es dazu?

Die interessierte mich schon immer. Ich habe im Alter von sieben Jahren Theater gespielt, in der Schule und beim Pioniertheater am Schauspiel Leipzig. So wurde klar, dass Kultur auch in meinem Berufsleben eine Rolle spielen würde, die liegt mir mehr als Technik. Obwohl ich als Techniker im Kino anfing. Ich komme aus einer Familie von Handwerkern und Ingenieuren. Das hat alles meine Schwester geerbt, die handwerklich sehr begabt ist. Wir haben am selben Tag Geburtstag. Meine Großmutter beschwerte sich darüber, dass sie zwei Geschenke mitbringen muss, aber nur einmal Kaffee und Kuchen bekommt.

Sie lernten Filmvorführer?

Genau. Und ursprünglich wollte ich das Filmkunsttheater Casino in der Magazingasse übernehmen. Dort liefen Filme, die vom jeweiligen Vertrieb für die Vorführung in der DDR nicht lizensiert waren. Die Voraussetzung dafür war, dass sie innerhalb eines Klubs gezeigt wurden, die Mitgliedschaft im Filmklub kostete im Jahr eine Mark. Sie zeigten die alten »King Kong«-Filme oder Disneys »Schneewittchen« von 1938.

Was wurde aus Ihrem Wunsch, das Casino zu übernehmen?

Das Casino sollte ein Genosse übernehmen, und ich war nicht in der Partei und wollte das auch nicht. Ich sollte den Felsenkeller übernehmen, der gehörte zum Kirow-Werk und war damals ein ganz neues Jugendklubhaus. Der Kaderleiter war von mir begeistert, allerdings hatte Margot Honecker die Hand drauf. Es kam ebenfalls nur ein Genosse infrage.

Und wie kamen Sie zum Kabarett?

Ich war beim Kabarett Lindenauer Brettl dabei, das gründete sich 1979 und spielte im Haus der Volkskunst, wo heute das Theater der Jungen Welt sitzt. Wir waren das einzige Kabarett, wo man während der Vorstellung trinken und rauchen durfte. Zwischendurch war ich noch bei der Armee, von 1978 bis 1980.

Sie dienten zwei, nicht drei Jahre?

Ja. Es hieß zwar im Wehrkreiskommando: »Sie haben studiert, Sie können ruhig drei Jahre dienen«. Ich antwortete: »Ich gehe drei Jahre, aber halbe Tage.« Nach der Armee wechselte ich ins Bezirkskabinett für Kulturarbeit, das war im Karl-Liebknecht-Haus in der Braustraße.

Sie bekamen den Felsenkeller und das Casino nicht, hatten aber trotzdem eine Leitungsposition und machten Kabarett?

Bis zum Berufsverbot 1983. Das Berufsverbot kam, kurz bevor ich nach einer vielseitigen Ausbildung die Bühnenreife erhalten sollte. Unser Programm war nach 120 Vorstellungen verboten. Ich wurde aus dem Rat des Bezirkes entlassen und übergangsweise ins Gesundheitswesen gesteckt. In der Bundesrepublik wurde ich rehabilitiert. 1995 versuchte ich, noch ein Kabarett aufzumachen, aber da passten die Rahmenbedingungen nicht, zum Beispiel hätten wir eine Wahnsinnsmiete zahlen sollen. Außerdem hatten wir große künstlerische Differenzen, mir ging das zu weit nach rechts.

Welchen Wortlaut hatte das Berufsverbot?

»Ihnen wird die Spielerlaubnis aus politischen, moralischen und künstlerischen Gründen entzogen.« Das waren auch die Gründe laut Gesetz. Übrigens am 9. November, ausgerechnet. Die Auflage war, dass wir noch am 15. und 16. November 1983 im Ring-Café bei der Mode-Revue spielen. Das war schön: Disko-Musik, die tollsten Klamotten, die es nicht zu kaufen gab, und Kabarett. Die Mischung lief gut. Beide Abende waren ausverkauft und wir mussten sie noch absolvieren. Wir nahmen uns heraus, Silvester auch noch zu spielen. Das war illegal, ließ sich aber mit ein paar Tricks machen.

Wurden Sie rehabilitiert?

Als Kabarett zahlten wir auf alles Steuern und Beiträge in die Sozialversicherung, das war in der DDR einheitlich geregelt. In der Rente wird das nicht berücksichtigt. Die Richterin in der Rehabilitierungskommission meinte, ich hätte den Antrag 15 Jahre eher stellen sollen. Dabei dauerte das Verfahren allein schon sieben Jahre. Also bekomme ich keine Rente aus der Kabarettarbeit. Ich hatte nie Glück mit dem Geld. Im Rat des Bezirkes erhielten alle 30.000 DM Abfindung, das erzählte mir eine Kollegin 1992. Ich dachte: »Die hole ich mir auch!« Auf meinen Antrag hin erhielt ich ein Schreiben, dass das nur noch bis zum 31.12.1991 möglich gewesen wäre. Ich habe mir deswegen nicht das Leben genommen wie andere, liebe Kollegen, die so etwas nicht verkraften konnten.

Was machten Sie nach Ihrer Kabarett-Zeit?

Ich hatte schon während des Studiums in der Gastronomie gearbeitet, dort stieg ich dann voll ein. Genauer: in die Nachtgastronomie. Dort war, nicht zuletzt durch die Messen, richtig gut Geld zu verdienen. Manchmal gab es D-Mark: Mit 10 DM hatte ich beim Wechselkurs 1 zu 5 die Miete für den Monat drin. Kellner in einer Nachtbar wollten viele werden, 400 Leute standen Schlange. Ich kannte den damaligen Chef von der Orion-Bar in der Nikolaistraße und der stellte mich ein, weil er wusste, dass er sich mit mir und meinem Berufsverbot keine Laus in den Pelz setzt. Es gab dort ja überall Informelle Mitarbeiter.

Während der Messen boomte die Gastronomie?

Ja, im Gegensatz zu sonst war dann auch alles erhältlich. Weil die Versorgung normalerweise nicht gut war, fertigte ich im Mai 1989, zur Zeit der letzten Wahl, auf der Schreibmaschine kleine Zettelchen an, die ich in der Orion-Bar heimlich auf den Tischen verteilte: »Auch ohne Gurken und Tomaten / wählen wir unsere Kandidaten.« Die Gäste amüsierte das sehr. Dann kam die Stasi und ich hatte eine Heidenangst. Mein Chef sprach mich an: »Harald, das warst du, oder?« Ich stritt das vehement ab. Ich bin kein Held.

Die Orion-Bar war eine Nachtbar, das klingt ein bisschen anrüchig.

Nachtbars waren Tanzbars mit Kapellen und Programm. Das waren keine Vitaminbars, natürlich haben Frauen dort Männer kennengelernt. Aber das Publikum reichte von 18 bis 80 Jahren. Die Diskotheken machten um eins zu, in den Nachtbars trafen sich alle. Wir haben in der Orion-Bar viele Episoden erlebt. Einmal hat der Bürgermeister von Borna in die Decke geschossen. Der war besoffen und wir mussten ihm die Waffe abnehmen.

Wieso war der Bürgermeister denn bewaffnet?

Die Funktionäre waren alle Waffenträger. Nur nahmen sie die normalerweise nicht in eine Bar mit. Deswegen hatte ich auch Angst, dass es 89 doch knallt.

In der Bar in der Nikolaistraße waren Sie 1989 nah dran an den Montagsdemonstrationen?

Ja. Zum Beispiel standen im Oktober 1989 Kerzen auf dem Nikolaikirchhof. Wir kamen nachts um fünf aus der Bar in der Nikolaistraße und fuhren an Leuten in Zivil vorbei. Die sammelten die Kerzen ein, da wusstest du gleich, wer das war. Wir trauten uns, die anzuherrschen: »Was’n hier los?!« Die sprangen ins Auto und waren weg. Wenn man sich das heute überlegt – die hätten uns ganz schön drankriegen können. Aber das war nicht das einzige kritische Jahr. Unser Verbotsjahr, 1983, war ein sehr heißes Jahr. Der Nato-Doppelbeschluss und das große Nato-Manöver, in Polen die Solidarność und man selbst stimmt auf der Bühne kritische Töne an. Es ist schon gut, dass manche Sachen einem erst im Nachhinein klar werden.

War das Thema in Ihrem Programm?

Wir mussten alle Texte abnicken lassen. Aber wir konnten den einen oder anderen derben Spaß einflechten: »Westdeutschland hätte das mit dem Nato-Doppelbeschluss gar nicht machen müssen. – Wieso? – Naja, die behaupten, die Sowjets hätten SS 20 (Mittelstreckenrakete, Anm. d. Red.). Aber das stimmt gar nicht, das ist eine Verwechslung. Tatsächlich haben die noch 20 von der SS.« Das ließen sie durchgehen.

Und was ging nicht durch?

Einmal wurde ich in den Rat des Bezirkes zitiert, das war 1978, kurz vor meiner Armeezeit, als ich gerade das Jugendklubhaus Schwarzer Jäger in Lindenau hatte. Siegmund Jähn flog ins All, und wir waren alle ein bisschen stolz. Auf der Titelseite des Neuen Deutschland stand: »Der erste Deutsche im All ist ein DDR-Bürger.« Ich nahm mir abends die Seite vor und fragte: »Ist das nicht toll?« Klatschen im Publikum. Ich weiter: »Der erste DDR-Bürger im All ist ein Deutscher.« Lachen im Publikum. Am Montag musste ich zum Rat des Bezirkes, zum Stadtrat für Kultur, Dr. Fischer, vorher Militärattaché der DDR in Ägypten. Der fragte mich: »Du weißt wohl nicht, dass die Nationale Frage bei uns nicht gestellt wird?« Ich sah alle Felle so gut wie davonschwimmen und traute mich zu antworten: »Wenn ihr als Kommunisten das Versprechen nicht einlösen könnt, das Ulbricht Stalin gegeben hat, die nationale Frage zu lösen, dann ist das nicht mein Problem. Das ist ein Problem eurer Partei.« Fischer warf mich raus und ließ mich am nächsten Tag abholen und vernehmen. Der Vorwurf lautete, ich hätte ihn bedroht. Ich verteidigte mich damit, ihm nicht damit gedroht zu haben, dass er nach Moskau muss. Daraufhin schlugen die mich mit dem Lineal, das sieht man hinterher nicht. Das hätte ich der Stasi nicht zugetraut. Natürlich habe ich mich dann entschuldigt.


Biografie: Geboren 1954 in Leipzig, hat zunächst Facharbeiter für Filmwiedergabe gelernt, war stellvertretender Theaterleiter im Capitol und Theaterleiter in Connewitz, dann 1976–78 jüngster Klubhausleiter Leipzigs im Jugendklubhaus Schwarzer Jäger in Lindenau. Nach dem Studium der Kulturwissenschaft und -theorie arbeitete er im Bezirkskabinett für Kultur, war zwischenzeitlich als einziger Nicht-Genosse verantwortlich für die 56 Klubhäuser im Bezirk Leipzig, anschließend kurze Zeit im Stadtkabinett für Gesundheitserziehung. Er machte Kabarett bis zum Berufsverbot 1983. Dann war er als gelernter Kellner in 10 von 13 Nachtbars der Stadt tätig. Seit 23 Jahren arbeitet er als Reiseleiter.


Waren die Schläge das einzige Druckmittel?

Die Stasi drohte, dass ich meine Abschlussarbeit im Studium nicht schreiben darf und dass ich keinen Beruf kriege und die Straße kehren darf. Dabei muss das natürlich auch gemacht werden, das ist eine schwere Arbeit. Über mich wurde aber kein Operativer Vorgang angelegt. Es gibt trotzdem ungefähr 1.800 Seiten aus anderen Akten, die ich auch begonnen hatte einzusehen. Nach einer Stunde bin ich gegangen, das war mir zu albern. Die haben zum Beispiel eine Geburtstagsfeier von mir analysiert. Über zwanzig Seiten beschreiben sie, wer das Haus betritt: Frau mit grüner Jacke und roter Hose, Mann mit grünem Jackett und so weiter.

Das ist so banal …

… ja, richtig banal. Die hätten ein paar Zugeständnisse machen müssen, dann wäre es anders gelaufen. So ist ein großartiges Experiment geplatzt, aus Machthunger und zur Machtsicherung. Und sie wurden von sowjetischen Panzern gekitzelt.

Was war Ihre Aufgabe im Jugendklubhaus?

Als Leiter machte ich die Verträge mit den Gruppen, organisierte alles Inhaltliche. Ich kannte meine Lindenauer Räbchen von Kindesbeinen an, mit denen habe ich auch mal ein Bier getrunken, ohne meine Position als Leiter zu sehr zu betonen. Andere haben die nicht für voll genommen. Jahrelang hatte es dort Schlägereien gegeben, wir konnten das mit einem Klubrat unterbinden. In der ersten Etage war die Diskothek, unten trafen sich die Gruppen, die Galerie war gesperrt. Die Kapazität lag bei 700 Leuten. Einmal gingen nur noch 250 rein, ich ließ aber alle rein, die draußen warteten. Dafür musste ich Strafe zahlen. Und das ist eigentlich eine DDR-Geschichte. Montagfrüh bekam ich eine Strafe von 150 Mark wegen Verletzung der Brandschutzvorschriften. Eine Stunde später rief mich die Stellvertreterin vom Bürgermeister an. Ich hätte eine 100-Mark-Prämie bekommen wegen ordnungsgemäßer Durchführung einer Veranstaltung trotz Überlastung.

Was änderte sich nach der Wende?

Die Betriebe wurden alle privatisiert. Es liefen einige Geschichten mit Leuten aus dem Westen, die dort schon Gewerbeverbot gehabt hatten und ihre Geschäfte hier über Strohmänner abwickelten. 1995 hörte ich auf: Erstens wollten wir mit dem Kabarett noch einmal durchstarten und zweitens wurde mir das zu rotlichtig.

Also wurden Sie Reiseleiter?

Ein ehemaliger Kollege im Rat des Bezirkes hatte ein kleines Busunternehmen. Der sprach mich an, ob ich nicht als Reiseleiter arbeiten möchte. Nach einiger Zeit fuhr er auch für Polster und Pohl, ein junges Leipziger Unternehmen, inzwischen das größte Reiseunternehmen in Ostdeutschland. So landete ich dort als ungefähr der dreizehnte Reiseleiter, mittlerweile sind es 350. Die beiden Inhaber bewundere ich, die sind unwahrscheinlich fleißig und waren sicher nie in der Diskothek.

Welchen Teil der Welt haben Sie noch nicht besucht?

Australien und Neuseeland, das habe ich mir versagt, obwohl ich es hätte machen können. Seit zehn Jahren mache ich keine Flug- und Schiffsreisen mehr. Aber es wird nicht langweilig. Der aktuelle Monat hat noch 19 Tage. Währenddessen fahre ich noch nach Polen, zwei Mal nach Tschechien und zwei Mal nach Italien.

Warum haben Sie auf Down Under verzichtet?

Mich interessiert die alte Kultur mehr. Zwei Regionen würde ich gern noch besuchen, das ist leider nicht möglich: Der Nordirak mit den Stätten von Ur und Ninive – und Nordkorea. Meine Frau und ich lieben Ägypten. Polster und Pohl hat mir eine Weltreise bezahlt. Übrigens brauchen wir Leute: Sie können sich morgen vorstellen.

Ist der Reisemarkt in der Pandemie nicht ein schwieriges Pflaster?

Viele Reiseleiter haben aufgehört.

Welche Aufgaben hat ein Reiseleiter?

Er betreut die Gäste inhaltlich und organisatorisch und kümmert sich um alles, inklusive Bordservice, Stadtführungen oder auch Reklamationen im Hotel. In Rom zum Beispiel hatte ein Gast ein Zimmer voll Schimmel. Ich fragte an der Rezeption nach einem anderen Zimmer, der Mitarbeiter tat so, als verstehe er mich nicht. Ich also: »Der Gast bekommt mein Zimmer und Sie bestellen mir bitte ein Taxi in ein anderes Hotel. Die Rechnung schicke ich Ihnen.« Plötzlich war das mit dem Zimmer kein Problem: »Ich dachte immer, die Deutschen haben kein Temperament.« Manchmal muss man etwas schauspielern.

Gehen Sie noch ins Kabarett?

Das letzte Mal war ich vor vier, fünf Jahren bei den Academixern. Ich schätze Thorsten Wolf, und Meigl Hoffmann halte ich für einen hervorragenden Kabarettisten. Sein Otto-Reuter-Programm ist toll. Aber ich muss Abstand nehmen, sonst tut es zu weh. Theater war immer meine Liebe.

Sie sind Ur-Leipziger, woher stammen Sie genau?

Ich bin Lindenauer. In der Kaiserstraße, heute die Endersstraße, gehörte meinem Urgroßvater die Nummer Acht. Er verkaufte das Haus 1935, weil er wegen einer Bleivergiftung im Rollstuhl saß. Er war Schriftsetzer und hat beim Setzen der Bleitypen die Finger mit dem Mund befeuchtet. Zuvor hatte er ein Restaurant aufgemacht, das es heute noch gibt: die Gaststätte Prieße.

Ich wollte meine Heimatstadt nie verlassen. Als 1973 der Uniturm fertig war, habe ich von dort oben das erste Mal gesehen, wie viel Grün Leipzig hat. Natürlich war der Verfall der Stadt schmerzhaft. Die haben in der DDR die Innenstädte verfallen lassen und außen Satellitenstädte hingesetzt. Ich würde sagen, dass sich Leipzig zum Guten gewandelt hat.

INTERVIEW: TOBIAS PRÜWER UND FRANZISKA REIF

FOTO: Christiane Gundlach


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