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Politik

Totales Versagen der Politik

Das ehemalige KZ Sachsenburg gibt aktuell ein Lehrstück darüber, dass Erinnerungskultur nicht von lokaler Verwaltung diktiert werden sollte

  Totales Versagen der Politik | Das ehemalige KZ Sachsenburg gibt aktuell ein Lehrstück darüber, dass Erinnerungskultur nicht von lokaler Verwaltung diktiert werden sollte

Männer in SS-Uniformen sitzen und stehen um eine lange Tafel. Weißes Tuch ist aufgelegt, darauf stehen Blumensträuße, gefüllte Weingläser. Es ist November 1934. Die Vorhänge sind zugezogen und lassen keinen Blick auf das seit Mai 1933 existierende KZ Sachsenburg zu, auf dessen überschaubarem Gelände die Kommandantenvilla steht, in der Karl Otto Kochs Abschied gefeiert wird.

Sachsen pachtete ab Mai 1933 das Spinnerei-Gelände in Sachsenburg zur Einrichtung eines Schutzhaftlagers. Damit gehörte es zu den frühen Konzentrationslagern und war seit 1934 das einzige KZ in Sachsen. Der Vertrag sieht vor: »Die zur Spinnerei gehörige Villa darf nur als Wohnung von Beamten oder Führern des Lagers benutzt werden und ist auch dann pfleglich zu behandeln.« Pro Monat und Etage kostete das 25 Mark Entschädigung. Die Villa lag gegenüber dem mehrstöckigen Fabrikgebäude, in dem die Häftlinge und die Wachmannschaft untergebracht wurden. Für 1.000 Häftlinge gab es vier Aborte und 48 Hähne für Waschgelegenheiten, wie die Gedenkstätte Sachsenburg – betrieben von der Geschichtswerkstatt Sachsenburg – auf ihrer Website schreibt. Zwischen Villa und Fabrik lag der Appellplatz, Ort der Zählungen, Prügelstrafen und Aufteilungen in die Arbeitskommandos. Hinter der Villa befand sich der Sportplatz, auf dem die Gefangenen zum Sportkommando antreten mussten, eine weitere Option, um sie zu drangsalieren und zu quälen. Später wurde noch ein Schießstand für das Training der Wachmannschaft angelegt. Der Kommandant hatte auch das genau im Blick und war zugleich geschützt. Die Machtzentrale des Lagers war vorsorglich mit Zaun und Wachhäuschen versehen.

Karl Otto Koch war nicht lange in Sachsenburg. Sein Dienst begann am 1. Oktober und endete am 8. November 1934. Danach arbeitete er in den KZs Esterwegen, Dachau und Columbia-Haus Berlin, bis er 1937 zum ersten Kommandanten von Buchenwald ernannt wurde. Dort wurde er am 5. April 1945 wegen Hehlerei, Betrug und Unterschlagung zum Tode verurteilt und hingerichtet. Seinen Einstieg als Lagerkommandant in Sachsenburg dokumentierte er in einem heute noch erhaltenen Fotoalbum.

Kommandantenvilla
Kommandantenvilla: Leerstand von 1990 bis zum Abriss 2022
Foto von Luc Saalfeld

Nach 1945 ist in der Villa eine Kinderkrippe untergebracht, nach 1990 folgt der Leerstand. 2014 übernimmt die Stadt Frankenberg die Villa und beschließt ein Jahr später den Abriss. Rettende Maßnahmen zur Sicherung des Gebäudes bleiben entsprechend aus. Nach Protesten schreibt die Stadt 2020 einen Ideenwettbewerb zur Umgestaltung der Kommandantenvilla aus. Den Wettbewerb betreut die Fagus GbR aus Markkleeberg, spezialisiert auf Landschaftsbau, die zuvor das Außengelände des Taka-Tuka-Landes – der größten Kita – in Frankenberg gestaltete. Zusätzlich kümmert sich das Büro im Auftrag von Frankenberg um die Stelen »Pfad der Erinnerung«, die über die Geschichte vor Ort informieren. Ihre äußere Gestalt aus perforierten Metallkonstrukten wirkt äußerst unsensibel auf dem Gelände und offenbart keinen Zugang zu zeitgenössischer Gestaltung in der Erinnerungskultur.

In den Wettbewerbsunterlagen (siehe kreuzer 9/2020) ist zu lesen, dass die Villa nicht erhalten bleiben soll. Die Realisierung war für dieses Jahr vorgesehen. Im Mai 2022 organisierte die Sächsische Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (sLAG) (siehe kreuzer 5/2022 sowie www.kreuzer-leipzig.de) ein Symposium mit den drei Wettbewerbs-Preisträgern, an denen vorbei sich Frankenberg aktuell mit einem von der unabhängigen Jury nicht prämierten Entwurf um staatliche Gelder für die Gedenkstätte bewirbt.

Zudem vermeldete die Stadt am 8. September den Abriss der Villa »bis zur Oberkante Kellerdecke und unter Berücksichtigung der Auflagen aus der denkmalschutzrechtlichen Genehmigung vom 30.12.2019«. Die Gelder für den Abriss stammen aus dem Landesprogramm Brachflächenrevitalisierung/Brachenberäumung und stehen bis zum Jahresende zur Verfügung. Nun handelte es sich bei der Kommandantenvilla keineswegs um eine Brache, sondern um – so das Landesamt für Denkmalschutz gegenüber dem kreuzer – ein Kulturdenkmal innerhalb der Spinnerei Sachsenburg, das als Zeugnis eines der frühen KZs eine »herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung besitzt«. »Massive Schäden« hätten aber dazu geführt, dass dem Abbruchantrag bis auf den Gebäudesockel stattgegeben werden »musste«. Von Rettungsplänen ist auch hier keine Rede.

Allerdings verweist das Amt in Bezug auf den Ideenwettbewerb darauf, dass »eine unabhängige Jury« den ersten Preis im Wettbewerb »für eine sehr einfühlsame und angemessene Lösung zuerkannte«, und hält fest, dass »leider die Realisierung dieses Entwurfs nach einer anderslautenden Meinungsbildung des Stadtrates in Frage steht«.

Die Stadtverwaltung betont stattdessen: »Der Rückbau konterkariert den von Bund und Land genehmigten Antrag nicht und gefährdet keinesfalls die Realisierung der geplanten KZ-Gedenkstätte Sachsenburg.« Die Bagger begannen am 11. Oktober mit der fast vollständigen Zerstörung der ehemaligen Machtzentrale im KZ, obwohl Frankenbergs Bürgermeister Thomas Firmenich (parteilos) vorab der Freien Presse noch weismachen wollte, dass die ersten Baggerbisse nur zeigen sollen, »wie stabil die Wände sind und was man erhalten kann«.

Der kreuzer fragte bei Ministerpräsident Michael Kretschmer nach, der das ehemalige KZ zum Holocaust-Gedenktag 2021 besucht hatte, welche Haltung er zur Zerstörung der Villa vertritt. Von Abriss spricht er nicht, weiß um den »sensiblen Punkt« und betont: »Es ist der Stadt Frankenberg und dem Stadtrat hoch anzuerkennen, dass sie sich der historischen Verantwortung stellen und einen Ort der Erinnerungskultur, mit dem Verdeutlichen der NS-Gräueltaten und der Vermittlung von Diktaturregimen, aufbauen und so einen wichtigen Beitrag zur demokratischen und politischen Bildung leisten.« Der MP sieht es pragmatisch: »Wichtig ist, dass eine Gedenkstätte entsteht.« Da scheint es letztlich auch egal zu sein, ob ein wichtiges Element wie die Kommandantenvilla in der konkreten Geschichtsaufarbeitung vor Ort fehlt oder sich die Kommune mit einem unprämierten Wettbewerbsentwurf um öffentliche Gelder bewirbt.

Deutlicher positioniert sich beispielsweise die sLAG: »Die Auslobung des Ideenwettbewerbs ›Umgestaltung der Kommandantenvilla‹ zu einem Ort der Erinnerung 2020 erscheint im Rückblick erneut als Teil einer mit öffentlichen Mitteln finanzierten Farce. An deren Ende steht ein ernüchterndes Resümee: Nicht nur namhafte Wissenschaftler*innen, sondern vor allem Vertreter*innen der Zivilgesellschaft haben sich für den Erhalt und die Nutzung des Gebäudes engagiert. Sachsens Regierende haben in diesem Prozess versagt und sehen sich in Sachsenburg vor den Trümmern einer Gedenkstättenkonzeption, die ihren Namen verdient hätte.«

Die Vorsitzende der Lagerarbeitsgemeinschaft KZ Sachsenburg und Nachfahrin eines ehemaligen Häftlings, Gisela Heiden, erklärt, dass der Abriss ein Sinnbild sei für »ein totales Versagen der politisch Verantwortlichen, ein Wegschauen und die Duldung der Handlungen des Bürgermeisters Firmenich«. Zudem gibt sie zu bedenken, dass durch ein kaputtes Dach auch die ehemalige Kommandantur mit den Arrestzellen und den bis heute darin noch zu sehenden Wandeinritzungen der Gefangenen gefährdet sei.

Beim Abriss im Oktober sind laut Denkmalschutz von der ehemaligen Kommandantenvilla übrig geblieben: »ein Fenstergitter aus dem Kellergeschoss und dem Erdgeschoss, ein Fensterelement als exemplarischer Beleg, Geländersegmente von der ehemaligen Terrasse, Gebäudeeingangstür, diverse Innentüren, Fußbodenfliesen aus dem Eingangsbereich Erdgeschoss, Treppenaugeneinfassung, Heizkörpereinfassung aus dem Erdgeschoss sowie einige kleinere Sachzeugnisse. Ein Mauerrest im Erdgeschoss konnte darüber hinaus vor Ort im Bestand gewahrt bleiben. Das kellergeschossige Mauerwerk (Halbkeller, d. h. teils überirdisch) einschließlich der äußeren Aufgangstreppe zum ehemaligen Erdgeschoss blieb unverfälscht erhalten.«

Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten, die das Areal eines Tages betreiben wird, »bedauert« den Abriss: »Die Stiftung sieht es immer kritisch, wenn historische Gebäude – seien es Verfolgungs- oder wie in diesem Fall Täterorte – nicht erhalten werden und so als bauliche Zeugen aus dem unmittelbaren Sichtfeld verschwinden«, erklärt der Pressesprecher Sven Riesel gegenüber dem kreuzer. Daher soll »der Aufbau der Gedenkstätte weiter konsequent vorangebracht« und im Rahmen dessen an den nun verschwundenen Ort erinnert werden.


Titelbild: Das Gelände des ehemaligen KZ Sachsenburg, Copyright Sachsenburg e.V.


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