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Zum Beispiel

Die Ausstellung zeigt viele blinde Flecken in der Geschichte der Stadt, auch abseits der Musik

  Zum Beispiel | Die Ausstellung zeigt viele blinde Flecken in der Geschichte der Stadt, auch abseits der Musik

Titelbild: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Fotos: Markus Scholz

Mit Schreibmaschinenschrift steht »Transportliste« auf dem A4-Blatt von Mitte September 1942. Hinter der Nummer 901 steht der Name Henri Hinrichsen. Dahinter: ein rotes Häkchen. Hinter Geburtsdatum und -ort – 5.2.1868 Hamburg – ein blaues Häkchen, hinter dem Verweis »staatenlos« ein schwarzes Häkchen. – Diese drei Häkchen besiegeln die Deportation des Leipziger Musikverlegers und Stifters in das KZ Auschwitz, in dem er am 17. September 1942 ermordet wurde.

Leipzig als bürgerliche Kunststadt

Zur Identität der Stadt Leipzig gehört, dass sie als bürgerliche Kunststadt immer eine gewisse Widerständigkeit in sich tragen wollte. Dieses Narrativ soll vieles aus der Vergangenheit erklären. Für Leipzig als Musikstadt wurde vor allem seit Mitte der 1920er Jahre seitens des Verkehrsdezernates geworben, auch um in Zeiten der Weltwirtschaftskrise die Handels- und Messestadt etwas in den Hintergrund treten zu lassen.

Die Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum weist auf viele Punkte hin, die auf ihre Aufarbeitung warten, um sie im Anschluss als städtische Institutionen der Stadtgesellschaft zu präsentieren, damit sie Teil der Erinnerungskultur werden und nicht mehr verschwiegen werden können. So stellt sie Friedrich August Hauptmann vor: Geboren 1893 in Oberfrohna, beginnt er in Leipzig ein Musik- und Medizinstudium, wendet sich dann der Zeitungskunde zu und arbeitet von 1920 bis 33 als freier Musikberichterstatter. Der NSDAP tritt er 1925 bei, in der er die kulturpolitische Abteilung für den Kreis Leipzig gründet. Er steht dem Kampfbund für deutsche Kultur vor, 1934 wird er der erste Leipziger Kulturdezernent. Zeitgleich wird das Kulturamt gegründet. Ein Jahr später entsteht im Gohliser Schlößchen das Haus der Kultur als erstes seiner Art in Deutschland, um »völkische Kultur« zu präsentieren. Eine detaillierte Geschichte zum Leipziger Kulturamt steht nach wie vor noch aus. Über den 1949 in Leipzig gestorbenen Hauptmann gibt es bisher auch keine Informationen, was er nach der Befreiung in Leipzig tat.

Vergessene Biografien

Die Ausstellung verweist aber auch auf einzelne bildende Künstler und deren Biografien, die allesamt weder am MdbK noch woanders aufgearbeitet sind – so etwa die von Rudolf Lipus, der beispielsweise die ausgestellten Werbeseiten für die Gewandhauskonzerte aus dem Jahr 1940 gezeichnet hat. Der 1893 in Leipzig geborene und 1961 hier auch gestorbene Maler ist im Ersten Weltkrieg Schützengrabenzeichner, im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Kriegsberichterkompanie sowie ab 1942 ein sogenannter Kriegsmaler in einer Staffel bildender Künstler, die einer Heeres-­Propagandakompanie unterstellt ist. Von 1941 bis 1944 zeigt er sowohl in München bei den Großen Deutschen Kunstausstellungen als auch bei den Leipziger Kunstausstellungen reichlich Militärmotive. Der Leipziger Oberbürgermeister Alfred Freyberg kauft 1943 von ihm das Gemälde »Der Handgranatenwerfer«, das nicht im Museum, sondern im Neuen Rathaus aufgehängt wird. Nach 1945 finden Museumsmitarbeiter das Bild in einer Kammer in der 3. Etage. In den Museumsakten wird es später mit »vernichtet« vermerkt. Nach 1945 illustriert Lipus Bücher für den Verlag Volk und Wissen.

Wer Arbeiten von ihm oder etwa den Bildhauern Walter Arnold (u. a. Clara Zetkin am Clara-Zetkin-Park) oder Rudolf Oelzner (Figurengruppe vor dem Zentralstadion) aus dem Bestand des Museums der bildenden Künste aus der Zeit vor 1945 sucht, wird bei »Malerei und Plastik des 20. und 21. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt Kunst aus Leipzig« in der dritten Museumsetage nichts finden. Die dortige Präsentation lässt die Zeit von 1933 bis 1945 einfach aus – was niemanden zu stören scheint.

1933 wurden natürlich nicht nur im ­Musikfeld mit Bruno Walter und Gustav Brecher namhafte Akteure entlassen, sondern auch in anderen kulturellen Institutionen Ausschlüsse vorgenommen, die im Detail noch nicht aufgearbeitet sind: So wurde Anfang Juni 1933 auf einer außerordentlichen Hauptversammlung des Leipziger Kunstvereins, der damals im Museum der bildenden Künste an der heutigen Stelle des Gewandhauses Räume besaß, unter anderem das langjährige, engagierte Vorstandsmitglied Gustav Kirstein seines Amtes enthoben. Wie der Ausschluss der anderen jüdischen Kunstvereinsmitglieder wie Max Ariowitsch, Hermann Halberstam, Henri Hinrichsen, Barnet Licht, Heinz Joske, Bertha Lilienfeld-Nachod, Edith Mendelssohn Bartholdy, Hans Nachod, Hugo Pevsner, Hugo Steiner-Prag, Moritz Ury oder Georg Witkowski erfolgte und/oder wie sich die anderen Vereinsmitglieder dazu verhielten, dazu liegen noch keine Zeugnisse vor. Stattdessen werden die jüdischen Unterstützerinnen und Unterstützer des Museums bis in die Gegenwart ignoriert und ausgeschlossen, wie Stephan Hubers »Stiftermosaik« im Foyer des Museumsneubaus jeden Tag aufs Neue dokumentiert: Das 2004 von dem Museum und damit auch von der Stadt initiierte Auftragswerk hat für jüdische Stifterinnen und Stifter keinen Platz gefunden. Stattdessen stellt der Künstler neben Brockhaus, von Sternburg und Schletter Kinder und seine Ehefrau als Platzhalter für künftige Geld- und Kunstgeber in das Bild. Eine Revision oder Ergänzung zur Arbeit befindet sich auch nach bereits vor Jahren vorgetragener Kritik nicht am Werk.

Die Aufarbeitung im Musikfeld als Beispiel für andere Bereiche

Das Musikfeld kann aber nicht nur für die bisher nicht erfolgten offiziellen Aufarbeitungen auf dem Gebiet des Kulturamtes oder der bildenden Kunst als Beispiel dienen, sondern auch für andere städtische Ämter – zum Beispiel für das Stadtbauamt: 1954 wird Walter Lucas als Chefarchitekt von Leipzig berufen. Der 1902 in Dresden geborene Architekt tritt 1928 in den NS-Studentenbund und in die NSDAP ein, eröffnet 1932 in Leipzig ein Architektenbüro, ab 1933 leitet er die Ortsgruppe des Kampfbundes Deutscher Architekten und Ingenieure und ab 1935 das sächsische Gauheimstättenamt der Deutschen Arbeitsfront, ist Hausarchitekt der Bank der Deutschen Arbeit. Von ihm stammt unter anderem das HJ-Heim »Hermann Göring« – heute Olympiastützpunkt am Sportforum. Von 1945 bis 1950 ist Lucas im Speziallager 4 in Bautzen inhaftiert, baut unmittelbar danach in Leipzig die Straße der III. Weltfestspiele (Jahnallee). In seiner Funktion als Leipziger Chefarchitekt und späterer Stadtbaudirektor beschäftigt er in seinem Dezernat acht ehemalige NS-Funktionäre bzw. NSDAP-Mitglieder sowie fünf Wehrmachtsoffiziere, was 1963 zu seiner Entlassung führt. Davon ist im von Ulrich von Hehl 2019 herausgegebenen 4. Band »Geschichte der Stadt Leipzig« nichts zu lesen.

Vertreten war Lucas hingegen in der bis Mitte Juli in der Berliner Akademie der Künste zu sehenden Ausstellung »Macht, Raum, Gewalt. Planen und Bauen im Nationalsozialismus«. Ein Raum darin zeigte Akteurinnen und Akteure auf diesem Gebiet – ohne Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern im NS. Ebenfalls aus Leipzig dabei: Kunz Nierade – nach 1945 Erbauer der Deutschen Hochschule für Körperkultur sowie der Oper in Leipzig. Auch von Nierade erzählt die »Geschichte der Stadt Leipzig« nichts zur Zeit vor 1945.

Opfer und Täter in der Gegenüberstellung zeigt auch die Ausstellung »Hakenkreuz und Notenschlüssel« im Stadtgeschichtlichen Museum – so etwa im direkten räumlichen Bezug mit Helmuth Bräutigam (siehe S. 26) und Erich Lieber­mann-Roßwiese. Der 1886 in Roßwiese Geborene arbeitet ab 1914 in Leipzig als Pianist, Klavierlehrer, Komponist und Librettist, ab 1927 bei der Mitteldeutschen Rundfunk AG, wo er die Konzertabteilung leitet und im Frühjahr 1933 entlassen wird. Liebermann-Roßwiese sucht vergeblich nach einer Arbeit im Ausland, nach der Deportation aus einem Leipziger Judenhaus ist er Ende 1942 im Ghetto Riga verschollen.

Täter und Opfer in einer Ausstellung

Museumsdirektor Anselm Hartinger ist sich bewusst, dass diese Gegenüberstellungen schwer auszuhalten sind – verbunden mit dem Wissen um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Lebensläufen – zum Beispiel der Leipziger, die auf Goebbels’ Gottbegnadeten-Liste aus dem August 1944 standen. Dazu gehören Gewandhausdirigent und Bruno-Walter-Nachfolger Hermann Abendroth, der nach 1945 die Staatskapelle Weimar und ab 1949 das Rundfunksinfonieorchester leitete, als Mitglied der NDPD in der Volkskammer saß und 1954 den Vaterländischen Verdienstorden der DDR erhielt.

Die Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum kann als Beispiel dienen, wie im überschaubaren Rahmen mit der eigenen Sammlung umgegangen werden kann und muss, um im ersten Schritt die vielen blinden Flecken in den städtischen Institutionen und Ämtern offiziell aufzuarbeiten und sich den eigenen Geschichten zu stellen. Im zweiten Schritt müssen diese Erkenntnisse öffentlich vermittelt werden, um sie als Teil der Stadtgeschichte und deren Erinnerungskultur für alle zugänglich zu machen. Dazu gehören die männlichen Biografien ebenso wie die bisher eher unbearbeiteten weiblichen, um ein möglichst umfangreiches Bild entstehen zu lassen. Denn die eingangs gestellte Frage »Wie widerständig sind Kunst und Kultur angesichts der Herausforderungen von Krise, Populismus und Ausgrenzung?« gilt nicht nur für die Zeit von 1933 bis 1945.

BRITT SCHLEHAHN

■ Transparenzhinweis: Die Autorin kuratierte 2019/20 im MdbK die Ausstellung »Sammlung im Blick: Leipziger Kunst 1900–1945«.


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