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Zum Beispiel

Die Ausstellung zeigt viele blinde Flecken in der Geschichte der Stadt, auch abseits der Musik

  Zum Beispiel | Die Ausstellung zeigt viele blinde Flecken in der Geschichte der Stadt, auch abseits der Musik

Titelbild: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Fotos: Markus Scholz

Mit Schreibmaschinenschrift steht »Transportliste« auf dem A4-Blatt von Mitte September 1942. Hinter der Nummer 901 steht der Name Henri Hinrichsen. Dahinter: ein rotes Häkchen. Hinter Geburtsdatum und -ort – 5.2.1868 Hamburg – ein blaues Häkchen, hinter dem Verweis »staatenlos« ein schwarzes Häkchen. – Diese drei Häkchen besiegeln die Deportation des Leipziger Musikverlegers und Stifters in das KZ Auschwitz, in dem er am 17. September 1942 ermordet wurde.

In Leipzig hat Hinrichsen nach dem Tod seines Onkels Max Abraham den Musikverlag C. F. Peters geerbt, er stiftet 1911 die Hochschule für Frauen und 1926 Gelder für den Grundstock des Museums für Musikinstrumente der Leipziger Universität. Nach 1933 wird ihm nicht nur der Zutritt zur Universität und zur Hochschule für Frauen verboten, Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler lässt im August 1933 anweisen, dass sowohl die Plastik von der langjährigen Hochschulleiterin Henriette Goldschmidt als auch das Bild von Hinrichsen aus dem öffentlich zugäng­lichen Raum der Frauen-Hochschule verschwinden. Hinrichsen bleibt aber in der Stadt, sein Haus und der Verlag werden am 9. November 1938 überfallen, Noten von jüdischen Komponisten im Hof verbrannt. Auf die Pogrome folgen Gesetze zur Arisierung des jüdischen Besitzes. Die Kunstsammlung der Familie – zehn Gemälde sowie 490 Zeichnungen und Grafiken – gehen auf Anordnung der Oberfinanzbehörde im Sommer 1939 zur treuhänderischen Verwaltung an das Museum der bildenden Künste, das einige Werke davon erhält. Die Museumsmitarbeiterin Hildegard Heyne zeigt im Museum dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt im Januar 1940 Kunstwerke zum Kauf. Heyne beschreibt in einem Brief, dass Gurlitt und sie zum Verkauf auch Hinrichsen im Museum getroffen haben – obwohl die Stadt jüdischen Bürgerinnen und Bürgern bereits 1935 – und somit ein Jahr vor dem Abriss des Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhaus – den Besuch von Museen, Theatern und kulturellen Veranstaltungen verboten hatte. Unmittelbar danach emigriert Hinrichsen mit seiner Frau Martha 1940 nach Belgien, um auf ein Visum nach Amerika zu warten. Sie stirbt ein Jahr später, da ihr Insulin verweigert wird. Sein weiterer Weg wird über die oben genannte Transportliste »organisiert«.

Diese Liste ist derzeit in der Ausstellung »Hakenkreuz und Notenschlüssel – Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus« im Stadtgeschichtlichen Museum zu sehen, unmittelbar neben einer Porträtzeichnung vom Leipziger Chorleiter Barnet Licht. Er hatte das Bild als Geschenk von seinen Mitgefangenen zur silbernen Hochzeit am 8. März 1945 erhalten, die er nach seiner Deportation im Februar 1945 aus Leipzig ins KZ Theresienstadt ohne seine Frau begehen muss. Licht (1874–1951) studierte am hiesigen Konservatorium und leitete bereits vor seinem Abschluss einen Männerchor in Plagwitz. Später organisierte er die Musikabteilung des sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungs-Instituts im Volkshaus, leitete den Chor der Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße. Im Sommer 1945 kehrte er nach Leipzig zurück und leitete wieder Chöre.

Die beiden Biografien und Objekte bilden eine Seite der Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum, die an die Opfer des NS erinnert und nun in Kombination mit Täterbiografien die Sicht auf die Zeit von 1933 bis 1945 in das kollektive Gedächtnis der Stadt holen will. Sie soll aber auch zeigen, wie in einer städtischen Institution kritische Erinnerungskultur hinsichtlich des eigenen Hauses, der eigenen Sammlung aussehen könnte. So macht zum Beispiel der Blick auf die Biografie von Hinrichsen deutlich, dass diese erste Präsentation von Tätern und Opfern des Nationalsozialismus auch auf die vielen nicht aufgearbeiteten Zusammenhänge in städtischen Institutionen verweist, die es nun endlich mal in Angriff zu nehmen gilt.

Unsere Musikredakteurin Anja Kleinmichel zitierte in der März-Ausgabe des kreuzer die Ausgangsfragen der Präsentation mit den Worten des Museumsdirektors Anselm Hartinger: »Wie widerständig sind Kunst und Kultur angesichts der Herausforderungen von Krise, Populismus und Ausgrenzung?«.

In neun Kapiteln verdeutlicht die Schau chronologisch, dass der Nationalsozialis­mus nicht erst im Januar 1933 begann und dass in einer Stadt, die sich einerseits immer als Bürgerstadt definierte und andererseits über eine sehr gut organisierte Arbeiterschaft samt eigenem Kulturbetrieb verfügte, die Widerstands- und Anpassungskräfte durchaus ganz unterschiedliche Ausmaße annahmen.

»Innerhalb jedes Kapitels werden anhand von Einzelschicksalen individuelle Handlungsspielräume thematisiert. Inwieweit haben prominente Musiker innerhalb ihrer Position auch gewisse Dinge verhindern können? Wo haben sie Kompromisse gemacht oder profitiert? Der Anspruch der Ausstellung, multiperspektivisch in der Darstellung von Einzelbiografien zu sein, wird überzeugend eingelöst und hinterlässt die Besucher und Besucherinnen – dem Thema angemessen – gerade deshalb mit vielen Fragen«, schrieb Kleinmichel kurz nach der Ausstellungseröffnung über »Hakenkreuz und Notenschlüssel«.

Die aktuelle Studio-Ausstellung im selben Haus erinnert mittlerweile an den 1898 in Leipzig geborenen Komponisten Hanns Eisler. Von ihm stammt das Zitat zu seinem Werk »Deutsche Sinfonie« aus dem Jahr 1959: »Ich glaube – wir müssen über die Vergangenheit nachdenken. Wer eine Zukunft haben will, muss Vergangenheit bewältigen, sich reinigen von der Vergangenheit, und klar und sauber in die Zukunft blicken.« Wer sich die »Hakenkreuz und Notenschlüssel«-Ausstellung ansieht (noch bis 20. August möglich), merkt auch, dass das bis heute in der Stadt und in ihren einzelnen Institutionen nicht erfolgte.

Leipzig als bürgerliche Kunststadt

Zur Identität der Stadt Leipzig gehört, dass sie als bürgerliche Kunststadt immer eine gewisse Widerständigkeit in sich tragen wollte. Dieses Narrativ soll vieles aus der Vergangenheit erklären. Für Leipzig als Musikstadt wurde vor allem seit Mitte der 1920er Jahre seitens des Verkehrsdezernates geworben, auch um in Zeiten der Weltwirtschaftskrise die Handels- und Messestadt etwas in den Hintergrund treten zu lassen.

Die Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum weist auf viele Punkte hin, die auf ihre Aufarbeitung warten, um sie im Anschluss als städtische Institutionen der Stadtgesellschaft zu präsentieren, damit sie Teil der Erinnerungskultur werden und nicht mehr verschwiegen werden können. So stellt sie Friedrich August Hauptmann vor: Geboren 1893 in Oberfrohna, beginnt er in Leipzig ein Musik- und Medizinstudium, wendet sich dann der Zeitungskunde zu und arbeitet von 1920 bis 33 als freier Musikberichterstatter. Der NSDAP tritt er 1925 bei, in der er die kulturpolitische Abteilung für den Kreis Leipzig gründet. Er steht dem Kampfbund für deutsche Kultur vor, 1934 wird er der erste Leipziger Kulturdezernent. Zeitgleich wird das Kulturamt gegründet. Ein Jahr später entsteht im Gohliser Schlößchen das Haus der Kultur als erstes seiner Art in Deutschland, um »völkische Kultur« zu präsentieren. Eine detaillierte Geschichte zum Leipziger Kulturamt steht nach wie vor noch aus. Über den 1949 in Leipzig gestorbenen Hauptmann gibt es bisher auch keine Informationen, was er nach der Befreiung in Leipzig tat.

Vergessene Biografien

Die Ausstellung verweist aber auch auf einzelne bildende Künstler und deren Biografien, die allesamt weder am MdbK noch woanders aufgearbeitet sind – so etwa die von Rudolf Lipus, der beispielsweise die ausgestellten Werbeseiten für die Gewandhauskonzerte aus dem Jahr 1940 gezeichnet hat. Der 1893 in Leipzig geborene und 1961 hier auch gestorbene Maler ist im Ersten Weltkrieg Schützengrabenzeichner, im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Kriegsberichterkompanie sowie ab 1942 ein sogenannter Kriegsmaler in einer Staffel bildender Künstler, die einer Heeres-­Propagandakompanie unterstellt ist. Von 1941 bis 1944 zeigt er sowohl in München bei den Großen Deutschen Kunstausstellungen als auch bei den Leipziger Kunstausstellungen reichlich Militärmotive. Der Leipziger Oberbürgermeister Alfred Freyberg kauft 1943 von ihm das Gemälde »Der Handgranatenwerfer«, das nicht im Museum, sondern im Neuen Rathaus aufgehängt wird. Nach 1945 finden Museumsmitarbeiter das Bild in einer Kammer in der 3. Etage. In den Museumsakten wird es später mit »vernichtet« vermerkt. Nach 1945 illustriert Lipus Bücher für den Verlag Volk und Wissen.

Wer Arbeiten von ihm oder etwa den Bildhauern Walter Arnold (u. a. Clara Zetkin am Clara-Zetkin-Park) oder Rudolf Oelzner (Figurengruppe vor dem Zentralstadion) aus dem Bestand des Museums der bildenden Künste aus der Zeit vor 1945 sucht, wird bei »Malerei und Plastik des 20. und 21. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt Kunst aus Leipzig« in der dritten Museumsetage nichts finden. Die dortige Präsentation lässt die Zeit von 1933 bis 1945 einfach aus – was niemanden zu stören scheint.

1933 wurden natürlich nicht nur im ­Musikfeld mit Bruno Walter und Gustav Brecher namhafte Akteure entlassen, sondern auch in anderen kulturellen Institutionen Ausschlüsse vorgenommen, die im Detail noch nicht aufgearbeitet sind: So wurde Anfang Juni 1933 auf einer außerordentlichen Hauptversammlung des Leipziger Kunstvereins, der damals im Museum der bildenden Künste an der heutigen Stelle des Gewandhauses Räume besaß, unter anderem das langjährige, engagierte Vorstandsmitglied Gustav Kirstein seines Amtes enthoben. Wie der Ausschluss der anderen jüdischen Kunstvereinsmitglieder wie Max Ariowitsch, Hermann Halberstam, Henri Hinrichsen, Barnet Licht, Heinz Joske, Bertha Lilienfeld-Nachod, Edith Mendelssohn Bartholdy, Hans Nachod, Hugo Pevsner, Hugo Steiner-Prag, Moritz Ury oder Georg Witkowski erfolgte und/oder wie sich die anderen Vereinsmitglieder dazu verhielten, dazu liegen noch keine Zeugnisse vor. Stattdessen werden die jüdischen Unterstützerinnen und Unterstützer des Museums bis in die Gegenwart ignoriert und ausgeschlossen, wie Stephan Hubers »Stiftermosaik« im Foyer des Museumsneubaus jeden Tag aufs Neue dokumentiert: Das 2004 von dem Museum und damit auch von der Stadt initiierte Auftragswerk hat für jüdische Stifterinnen und Stifter keinen Platz gefunden. Stattdessen stellt der Künstler neben Brockhaus, von Sternburg und Schletter Kinder und seine Ehefrau als Platzhalter für künftige Geld- und Kunstgeber in das Bild. Eine Revision oder Ergänzung zur Arbeit befindet sich auch nach bereits vor Jahren vorgetragener Kritik nicht am Werk.

Die Aufarbeitung im Musikfeld als Beispiel für andere Bereiche

Das Musikfeld kann aber nicht nur für die bisher nicht erfolgten offiziellen Aufarbeitungen auf dem Gebiet des Kulturamtes oder der bildenden Kunst als Beispiel dienen, sondern auch für andere städtische Ämter – zum Beispiel für das Stadtbauamt: 1954 wird Walter Lucas als Chefarchitekt von Leipzig berufen. Der 1902 in Dresden geborene Architekt tritt 1928 in den NS-Studentenbund und in die NSDAP ein, eröffnet 1932 in Leipzig ein Architektenbüro, ab 1933 leitet er die Ortsgruppe des Kampfbundes Deutscher Architekten und Ingenieure und ab 1935 das sächsische Gauheimstättenamt der Deutschen Arbeitsfront, ist Hausarchitekt der Bank der Deutschen Arbeit. Von ihm stammt unter anderem das HJ-Heim »Hermann Göring« – heute Olympiastützpunkt am Sportforum. Von 1945 bis 1950 ist Lucas im Speziallager 4 in Bautzen inhaftiert, baut unmittelbar danach in Leipzig die Straße der III. Weltfestspiele (Jahnallee). In seiner Funktion als Leipziger Chefarchitekt und späterer Stadtbaudirektor beschäftigt er in seinem Dezernat acht ehemalige NS-Funktionäre bzw. NSDAP-Mitglieder sowie fünf Wehrmachtsoffiziere, was 1963 zu seiner Entlassung führt. Davon ist im von Ulrich von Hehl 2019 herausgegebenen 4. Band »Geschichte der Stadt Leipzig« nichts zu lesen.

Vertreten war Lucas hingegen in der bis Mitte Juli in der Berliner Akademie der Künste zu sehenden Ausstellung »Macht, Raum, Gewalt. Planen und Bauen im Nationalsozialismus«. Ein Raum darin zeigte Akteurinnen und Akteure auf diesem Gebiet – ohne Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern im NS. Ebenfalls aus Leipzig dabei: Kunz Nierade – nach 1945 Erbauer der Deutschen Hochschule für Körperkultur sowie der Oper in Leipzig. Auch von Nierade erzählt die »Geschichte der Stadt Leipzig« nichts zur Zeit vor 1945.

Opfer und Täter in der Gegenüberstellung zeigt auch die Ausstellung »Hakenkreuz und Notenschlüssel« im Stadtgeschichtlichen Museum – so etwa im direkten räumlichen Bezug mit Helmuth Bräutigam (siehe S. 26) und Erich Lieber­mann-Roßwiese. Der 1886 in Roßwiese Geborene arbeitet ab 1914 in Leipzig als Pianist, Klavierlehrer, Komponist und Librettist, ab 1927 bei der Mitteldeutschen Rundfunk AG, wo er die Konzertabteilung leitet und im Frühjahr 1933 entlassen wird. Liebermann-Roßwiese sucht vergeblich nach einer Arbeit im Ausland, nach der Deportation aus einem Leipziger Judenhaus ist er Ende 1942 im Ghetto Riga verschollen.

Täter und Opfer in einer Ausstellung

Museumsdirektor Anselm Hartinger ist sich bewusst, dass diese Gegenüberstellungen schwer auszuhalten sind – verbunden mit dem Wissen um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Lebensläufen – zum Beispiel der Leipziger, die auf Goebbels’ Gottbegnadeten-Liste aus dem August 1944 standen. Dazu gehören Gewandhausdirigent und Bruno-Walter-Nachfolger Hermann Abendroth, der nach 1945 die Staatskapelle Weimar und ab 1949 das Rundfunksinfonieorchester leitete, als Mitglied der NDPD in der Volkskammer saß und 1954 den Vaterländischen Verdienstorden der DDR erhielt.

Die Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum kann als Beispiel dienen, wie im überschaubaren Rahmen mit der eigenen Sammlung umgegangen werden kann und muss, um im ersten Schritt die vielen blinden Flecken in den städtischen Institutionen und Ämtern offiziell aufzuarbeiten und sich den eigenen Geschichten zu stellen. Im zweiten Schritt müssen diese Erkenntnisse öffentlich vermittelt werden, um sie als Teil der Stadtgeschichte und deren Erinnerungskultur für alle zugänglich zu machen. Dazu gehören die männlichen Biografien ebenso wie die bisher eher unbearbeiteten weiblichen, um ein möglichst umfangreiches Bild entstehen zu lassen. Denn die eingangs gestellte Frage »Wie widerständig sind Kunst und Kultur angesichts der Herausforderungen von Krise, Populismus und Ausgrenzung?« gilt nicht nur für die Zeit von 1933 bis 1945.

BRITT SCHLEHAHN

■ Transparenzhinweis: Die Autorin kuratierte 2019/20 im MdbK die Ausstellung »Sammlung im Blick: Leipziger Kunst 1900–1945«.


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