Es sollte ein besonderer Prozess werden vor dem vierten Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig. Im imposanten Gebäude, heute das Bundesverwaltungsgericht, sollte das erste von den Nationalsozialisten initiierte Verfahren stattfinden. In einem geplanten Schauprozess wollten sie ihre Dominanz zeigen und die kommunistische Gefahr ein für alle Mal bannen. Angeklagt waren der Niederländer Marinus van der Lubbe, der KPD-Fraktionsvorsitzende Ernst Torgler und die drei Bulgaren Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew. Vorwurf: den Berliner Reichstag am Abend des 27. Februar 1933 angezündet zu haben (siehe kreuzer 2/2023).
In der NS-Propagandasprache handelte es sich um »das schwerste Verbrechen, das Deutschland jemals erlebte«. Für dessen Rache verwandelte sich das Reichsgericht in ein modernes Kommunikationszentrum, um nicht nur vor Deutschland, sondern vor der ganzen Welt die Schuld den Kommunisten anzulasten. Das sollte auch bereits aufgekommene Vorwürfe entkräften, selbst darin verstrickt zu sein. Bereits im Sommer war »Das Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror« erschienen. Auf dem vom Fotomontagekünstler John Heartfield gestalteten Einbandentwurf erscheint NS-Paladin Hermann Göring als schreiender Schlachter mit blutverschmierter Schürze und Hackbeil, während im Hintergrund der Reichstag abfackelt. Im August hatte zudem der Gegenprozess in London stattgefunden, der die Brandstifter in den Reihen der Nationalsozialisten verortete.
Für den Leipziger Prozess waren 82 Korrespondenten der internationalen Presse akkreditiert sowie 42 Vertreter der gleichgeschalteten NS-Presse. Für sie wurden in der großen Kuppelhalle im rechten Seitengang 30 gelbe Telefonzellen aufgestellt, zwei Tische für Posthilfestellen, ein Brief- und ein Luftpostbriefkasten sowie eine Lautsprecheranlage, über welche die Nummern freier Telefonzellen für die Pressevertreter ausgerufen wurden. Private Fotoaufnahmen waren sowohl im Gebäude als auch in den angrenzenden Straßen verboten. Auf Wunsch des Reichspropagandaministeriums sollte das ganze Volk die Geschehnisse am Radio verfolgen. Im Laufe des Prozesses wurde die Übertragungsfrequenz reduziert, da der geplante Triumph ausblieb.
Die erste Verhandlungsphase fand vom 21. September bis zum 7. Oktober im Hauptverhandlungssaal in Leipzig statt. Vom 10. Oktober bis zum 18. November zog das Gericht nach Berlin in den Reichstag um. Hier im unbeschädigten Saal des Haushaltsausschusses entstanden die heute noch bekannten Bilder und Aufnahmen des Prozesses. Nachdem am 4. November Hermann Göring als preußischer Ministerpräsident vor Gericht selbstbesoffen eine Stunde lang monologisierte, brachte ihn der angeklagte Kommunist Georgi Dimitroff mit Gegenfragen mehrfach in Bedrängnis. Görings Wutanfall endete mit den Worten: »Ich bin nicht hierhergekommen, um mich von Ihnen anklagen zu lassen. Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der längst an den Galgen gehört. Sie werden Angst haben, wenn ich Sie erwische, wenn Sie hier aus dem Gericht raus sind. Sie Gauner, Sie.«
John Heartfield kommentiert diese Situation mit dem legendären Cover der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung vom 16. November 1933. In der Collage dominiert Dimitroff das Bild, blickt von oben mit auf den Tisch gestützten Händen, während Göring breitbeinig mit in den Hüften gestützten Armen klein in der Rückenansicht zu sehen ist. Hinter Dimitroff erscheint links eine Berliner und rechts eine Leipziger Raumszene. Neben Dimitroff ist zu lesen »Der Richter«, neben Göring »Der Gerichtete«.
Vom 23. November bis 23. Dezember war Leipzig wieder Prozess-Schauplatz. Hier wurde einen Tag vor Weihnachten das Todesurteil gegen Marinus van der Lubbe und die Freisprüche für die anderen Angeklagten ausgesprochen. Die anderen vier blieben im Leipziger Gefängnis in sogenannter Schutzhaft. Im Februar 1934 verlieh der sowjetische Machthaber Josef Stalin ihnen die Staatsbürgerschaft der UdSSR, wohin sie danach abgeschoben wurden. Man feierte sie als »Helden von Leipzig«, was Popow und Tanew nicht vor der späteren Verhaftung im Zuge der stalinistischen Säuberungsaktionen verschonte.
Die Angehörigen von Marinus van der Lubbe baten um einen letzten Besuch vor der Hinrichtung und die Übergabe der Leiche. Beides wurde ihnen verwehrt. Auf dem Südfriedhof befindet sich seit 1999 ein Gedenkstein für van der Lubbe. Dieser wird bald umgesetzt: Zum Anlass des 90. Jahrestages der Hinrichtung am 10. Januar 2024 wird er an der Stelle aufgestellt, wo van der Lubbes Leichnam tatsächlich ruht. Nach Ausgrabungen und Untersuchungen der Stadt und der Paul-Benndorf-Gesellschaft in diesem Jahr konnte die Identität zweifelsfrei geklärt werden.
Das Kunstkollektiv Marinus veranstaltet zum sich rundenden Prozessbeginn das Projekt »Marinus – Das Fanal«. Es beginnt am 21. September mit dem Gerichtsauftakt und einer künstlerischen Intervention um 14 Uhr auf dem Simsonplatz vor dem heutigen Bundesverwaltungsgericht und endet am 23. Dezember mit der Urteilsverkündung vor 90 Jahren.