Wie hoch genau die Höchste Eisenbahn ist, weiß niemand so genau. Klar ist aber mittlerweile: hoch genug für ein Himmelfahrtskommando. Mit anderen Worten: Everybody’s Indiepop-Darlings Francesco Wilking und Moritz Krämer haben neben der Höchsten Eisenbahn eine neue Band. Eine achtköpfige und – wie das Konzert gestern in der Nato bewiesen hat – mehr als sechzehnhändige Band, die ein stilistisch wildes Konzeptalbum eingespielt hat, mit Saxofon, Posaune, Flöte und Geige hantiert und zu allem Überfluss noch »Artur & Vanessa« heißt. Will sagen: Hier wird wirklich auf jede einzelne Regel des Musik-Business gepfiffen, dass es eine wahre Freude ist.
Eigentlich sollte es ja ein Buch werden. Aber wer Wilking und Krämer in den letzten zwanzig Jahren erlebt hat, kann sich gut vorstellen, dass die beiden beim gemeinsamen Schreiben zwangsläufig bei Songs landen mussten. Und so erzählen sie nun also nicht auf 200 gedruckten Seiten die Geschichte von Artur und Vanessa, sondern zusammen mit Antonia Hausmann, Liv Solveig Wagner, Wencke Wollny, Benedict Reising, Malte Huck und Pascal El Sauaf in zwölf Songs (plus einem dreizehnten als Zugabe). Wilking witzelt, Krämer krächzt, ringsum wirbelt es. Huck und El Sauaf an Bass und Schlagzeug sind die einzigen, die ihre Instrumente und Plätze auf der Bühne nicht wechseln – alle anderen rotieren zwischen und in den Songs, vom Klavier zur Klarinette und zurück, von der Geige zur E-Gitarre, Gesangsmikrofone stehen überall. Posaunistin Antonia Hausmann spielt in einem Song Klavier und Shaker-Ei zugleich, an anderer Stelle schiebt Saxofonistin und Klarinettistin Wencke Wollny auf dem Weg zum Klavier Francesco Wilking zur Seite, der sich schon an der Reihe wähnte – es ist also nicht nur für diejenigen vor der Bühne unübersichtlich. Und das ist positiv gemeint.
Denn in diesem atmenden Wimmelbild auf der Bühne (das in jeglicher Hinsicht von der tollen Einfrau-Vorband Blush Always kontrastiert wird, um die es im Oktober-kreuzer ausführlicher geht) sind nicht nur unzählige Details zu beobachten, sondern auch zu hören. Da sind Eisenbahn-verdächtige, also zugleich-melancholisch-und-fröhliche Ohrwürmer wie »Die Sonne« und »Die Verlorenen«, in denen wir mit dem Bass fröhlich über Keyboardflächen hüpfen, da sind Hörspiel-artige Geräuschkulissen mit Sprechstimme (»Mesdames et Messieurs! Ladies and Gentlemen! Tiere und Pflanzen! – Willkommen im Freizeitpark!«), da ist rein instrumentale Kammermusik und ja, auch Jazz. Am Ende wird man gar – und das ist nicht hoch genug einzuschätzen, weil ganz grundsätzlich und erst recht nicht an einem Dienstagabend in der Nato zu erwarten – mit einem der schlimmsten Instrumente überhaupt versöhnt: der Blockflöte.
Und dann ist da ja auch noch die wilde Geschichte um Artur und Vanessa: Er, ein »unsympathischer, privilegierter junger Mensch aus der französischsprachigen Schweiz« könnte kurz nach der Wende nach Leipzig gekommen sein, um hier Mazdas oder Nissans zu verkaufen, sie findet Disneyland toll. Beide gründen einen Freizeitpark, fahren auf und ab, weil das life ja ein rollercoaster ist, wollen die Revolution und wollen sie nicht, werden nicht glücklich. Jedenfalls nicht zusammen.
Sehr wohl glücklich und das zweifelsohne zusammen werden an diesem Abend Publikum und Band. Dass einem am Einlass die Buchstaben L, i, e, b und e aufs Handgelenk gestempelt wurden, passt da ziemlich gut. Und dass diese Buchstaben auch am Morgen danach noch da sind, wird manche summend – Profis: pfeifend – durch den Mittwoch tänzeln lassen.