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Stadtleben

Im Kerzenlicht

Zum Lichtfest lohnt ein Blick in das Buch von Rainer Eckert zur Rolle Leipzigs in der Geschichtspolitik

  Im Kerzenlicht | Zum Lichtfest lohnt ein Blick in das Buch von Rainer Eckert zur Rolle Leipzigs in der Geschichtspolitik  Foto: LTM Punctum (Schmidt)

Am Abend des 9. Oktobers können wieder Kerzen entzündet werden, die dann zur 89 geformt auf dem Nikolaikirchhof brennen, um an die Demonstration von 1989 zu erinnern. Vorher gibt es in der Nikolaikirche das Friedensgebet von Bischöfin Kirsten Fehrs aus Hamburg und die Rede zur Demokratie der Journalistin Golineh Atai. Danach sind von 19 bis 23 Uhr Lichtfest-Illuminationen zum Motto »Das Gestern erinnern, das Morgen gestalten« zu erleben: Vor der Oper wartet die audiovisuelle Installation »Trabi« von Signal Creative aus Prag. Zwölf Trabis erzählen unter anderem die Geschichten von Geflüchteten aus der DDR in die BRD-Botschaft. Beim Stadtfest im Juni aufgenommene Fotografien von Menschen projiziert Philipp Geist unter dem Titel »Wir – Leipzig 2023« auf dem Burgplatz. Der »Beacon of Hope – Leuchtturm der Hoffnung« steht auf dem Richard-Wagner-Platz.

Bei all dem Leuchten, das uns die Leipziger Tourismus und Marketing GmbH (LTM) mal wieder zum lokalen Gedenktag beschert, lohnt ein Blick auf die Schattenseiten des ganzen Brimboriums, um dem Slogan »Das Gestern erinnern, das Morgen gestalten« nicht nur Trabis, sondern vielleicht auch ein paar Auseinandersetzungen und Aufarbeitungen zum Erinnern an und nach 1989 folgen zu lassen, die im Hinblick auf das mächtige Zukunftsprojekt zum Matthäikirchhof dringend notwendig sind.

BuchcoverDas im Frühjahr erschienene Buch »Umkämpfte Vergangenheit« des ehemaligen Direktors des Zeitgeschichtlichen Forums, Rainer Eckert, wäre dafür eine Gesprächsgrundlage und ein interessanter Stichwortgeber, also sinnvoller, als sich im Lichtkranz von Leuchtelementen zu sonnen. Eine Aufnahme vom Augustusplatz zum Lichtfest 2009 ziert das Cover des Buches, in dem Eckert auf über 400 Seiten in 27 Kapiteln seine Sicht auf die Erinnerungs- und Geschichtspolitik beschreibt und erklärt.

Ursprünglich wurde das Projekt unter dem Titel »Leipzig im Herzen. Die SED-Diktatur in der Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland heute« von der Stiftung Aufarbeitung gefördert und sollte als »Getrübte Erinnerungen« beim Mitteldeutschen Verlag erscheinen. Im Vorwort erklärt Eckert, warum das nicht geschah, und gibt seinen Blick auf die »SED-Aufarbeitungslandschaft« frei, die von persönlichen Eitelkeiten bis zur Entwicklung von Bürgerrechtlern zu Querdenkern und extremen Rechten reicht.

Leipzig nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Eckert erzählt im elften Kapitel über die Stadt in der deutschen Geschichtspolitik nach 2015 in sieben Absätzen – von seiner ehemaligen Arbeitsstätte, dem Zeitgeschichtlichen Forum über die Stiftung Friedliche Revolution bis zum Gutachten »Campus der Demokratie«. Eckert lobt die Veranstaltungsformate der Revolutionale, die die Stiftung Friedliche Revolution um Gesine Oltmanns 2019 bis 2021 organisierte, und kritisiert, dass die lokalen Ansätze, an 1989 zu erinnern – sei es um das Einheits-Denkmal oder das Lichtfest –, nie über den Stadtrand hinaus gelangten. Ihm fehle die »nationale Bedeutung«, die immer wieder im lokalen Kleinklein verloren gehe. Dabei wird deutlich, dass dieses »Kleinklein« bis heute wirkt und sich keinesfalls auf 1989 beschränkt, sondern Debatten und bis heute ungeklärte Fragen tangiert – wie die Bedeutung von ost- und westdeutscher Sozialisation oder die Frage, wer über was sprechen darf, oder ob Zeitzeugenschaft wissenschaftliche Qualifizierung aussticht …

Auch das Lichtfest kommt zur Sprache, als es um die Initiative 9. Oktober geht. Eckert kritisiert dabei besonders die Organisation durch die LTM. Ganz konkret schreibt er: »Den eigentlichen Sündenfall brachte der 9. Oktober 2015«, als die Fußballnationalmannschaft in der Stadt weilte und die damaligen DFB-Funktionäre Wolfgang Niersbach und Oliver Bierhoff Kerzenlichter entzündeten. »Ich fand dies wie viele andere auf dem Augustusplatz unangebracht, da es mit der Sache nichts zu tun hatte und nur Publikum anlocken sollte«, so Eckert. In der Inszenierung und den folgenden Jahren sah er »die Gefahr, dass das Lichtfest immer mehr zu einem Hokuspokus von Westdeutschen werden könne«.

Im Jahr 2016 legte Eckert sein Gutachten für den Matthäikirchhof als »Campus der Demokratie« vor, inklusive Kritik an der Dauerausstellung des Bürgerkomitees in der Runden Ecke. Für sie fordert er dringend »restauratorische Maßnahmen und modernere Ausstellungsformen«, gepaart mit einer Evaluierung der im Sommer 1990 erstellten Schau, und »die Einsetzung eines wissenschaftlichen Beirates«. Dabei führt er das »Platzhirschgehabe« vom Runde-Ecke-Leiter Tobias Hollitzer ebenso an wie dessen Anspruch, die Runde Ecke zu verkörpern, beschreibt aber auch das lokalpolitische Versagen.

Dass es um die Runde Ecke eine große Debatte gibt, habe laut Eckert mit der »Leipziger Szenezeitschrift kreuzer« zu tun: In der Titelgeschichte vom Juni 2019 – »Der Revolutionswächter: Wie Runde-Ecke-Chef Tobias Hollitzer das Erbe des Leipziger Herbstes verspielt« – ging es um die Institution und das Machtsystem ihres Leiters. Es folgten weitere Berichte – wie auch das Interview mit Rainer Eckert im Sommer danach (»Passiert ist nichts«). Eckerts Perspektiven auf die Leipziger Verhältnisse mögen einigen nicht gefallen, sie aber zu ignorieren, ist auch keine Lösung.

 

> Rainer Eckert: Umkämpfte Vergangenheit. Leipziger Universitätsverlag 2023. 435 S., 40 €                                          
> www.lichtfest.leipziger-freiheit.de


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